Ameisen amputieren Gliedmaßen verwundeter Artgenossen
Würzburg (Deutschland) – Die Anwendung lebenserhaltender Amputationen galt bislang als einzigartige Fähigkeit des Menschen. Jetzt haben Biologen erstmals solche gezielten „chirurgischen Eingriffe“ bei von Ross- bzw. Holzameisen dokumentiert.
Wie eine Forschungsgruppe um Dr. Erik Frank von der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg und Dr. Laurent Keller von der der Universität Lausanne aktuell im Fachjournal „Current Biology“ (DOI: 10.1016/j.cub.2024.06.021) berichtet, beißen Holzameisen (Camponotus floridanus) vorsorglich verletzte Gliedmaßen von Artgenossinnen ab, um deren Überleben zu sichern. Allerdings schreiten die Ameisen nur dann zur Tat, wenn die Verletzungen am Oberschenkel liegen – egal ob die Wunden steril oder mit Bakterien infiziert sind. Auf diese Weise gelinge es den Ameisen sogar, das Leben ihrer Artgenossen zu retten.
Hintergrund
Im Gegensatz zu vielen anderen Ameisenarten besitzen die im Südosten der USA beheimateten und bis zu 1,5 Zentimeter großen Holzameisen (Camponotus floridanus) keine Metapleuraldrüse, mit der sie ein antibiotisch wirksames Sekret produzieren können, mit dem andere Ameisenarten infizierte Wunden pflegen. Da die amerikanischen Holzameisen jedoch ihre Nester energisch gegen rivalisierende Ameisenvölker verteidigen, kommt es immer wieder zu schweren Verletzungen. So kam die Frage auf, welche anderen Mittel Camponotus-Ameisen gegen Infektionen einsetzen. Dass es sich dabei um verletzungsspezifische Amputationen handelt, war für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine große Überraschung.
„Der rabiate Eingriff verhindert, dass sich lebensgefährliche Wundinfektionen im Körper der Ameisen ausbreiten“, berichten die Biologen. „Die Erfolgsrate ist sehr gut: Rund 90 Prozent der amputierten Tiere überleben die Behandlung. Trotz des Verlustes eines ihrer sechs Beine können sie danach ihre Aufgaben im Nest wieder im vollen Umfang übernehmen.“
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Befinden sich die Wunden hingegen am Unterschenkel, werde niemals amputiert, so die Beobachtungen. „Stattdessen treiben die Ameisen in solchen Fällen einen höheren Aufwand bei der Pflege der Verwundeten: Sie lecken die Wunden intensiv aus. Vermutlich säubern sie sie damit auf mechanischem Weg von Bakterien.“ Auch diese Therapie sei mit einer Überlebensrate von rund 75 Prozent relativ erfolgreich.
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum nicht auch die Beine von Artgenossinnen mit Unterschenkelverletzungen entfernt werden – schließlich könnte man annehmen, dass sich die Überlebensrate dadurch noch deutlich steigern ließe – führten die Forschenden selbst Amputationen bei Ameisen mit verwundeten und bakteriell infizierten Unterschenkeln durch. Das Ergebnis fiel überraschend aus: „Die Überlebensrate nach der Amputation lag bei nur 20 Prozent.“
Weshalb das so ist, kann das Team plausibel erklären: „Computertomographische Untersuchungen zeigten, dass im Oberschenkel der Ameisen viele Muskeln sitzen, deren Aktivität für die Zirkulation des „Ameisen-Blutes“ sorgt, der Hämolymphe. Ameisen besitzen kein zentral pumpendes Herz wie Menschen, sondern mehrere über den Körper verteilte Herzpumpen und Muskeln, die diese Funktion übernehmen.
Verletzungen am Oberschenkel beeinträchtigen die Muskeln und behindern die Zirkulation. Weil der Blutfluss gemindert ist, gelangen Bakterien nicht so schnell von der Wunde in den Körper. In diesem Fall lohnt sich die Amputation: Bei schnellem Handeln ist die Chance groß, dass der Körper noch frei von Bakterien ist.
Im Unterschenkel dagegen liegen keine Muskeln, die für die Zirkulation der Hämolymphe relevant sind. Ist er verwundet, dringen die Bakterien sehr schnell in den Körper vor. Das Zeitfenster für eine erfolgreiche Amputation ist dann eng, die Chance auf Rettung gering.“
Tatsächlich gegen die Biologen und Biologinnen davon aus, dass Ameisen um genau diese Umstände zu „wissen“ scheinen: „Unsere Studie belegt erstmals, dass auch Tiere im Zuge der Wundbehandlung prophylaktische Amputationen einsetzen. Und sie zeigt, dass die Ameisen die Behandlung an der Art der Verletzung ausrichten“, kommentiert Laurent Keller abschließend.
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