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Anthropologen klären Herkunft bayerischer Langschädel aus dem Mittelalter


Künstlich deformierter Schädel einer Frau aus dem frühmittelalterlichen Fundplatz Altenerding.

Copyright: Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München

München (Deutschland) – Nicht nur in fernen Ländern, auch in Mitteleuropa finden Archäologen immer wieder sogenannte Turm- oder Langschädel (…GreWi berichtete), deren Ausformung im frühen Mittelalter absichtlich mittels mechanischer Einwirkung auf den Schädel von Kleinkindern herbeigeführt wurden, um offenbar einem exotischen Schönheitsideal zu entsprechen. Eine Studie der Bevölkerungen, die in der Zeit um 500 n. Chr. auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reichs in Bayern lebten, hat sich auch der Frage nach der Herkunft der Frauen mit derartige deformierten Schädeln gewidmet – und kommt zu verblüffenden Resultaten.

Wie das internationale Team um die Anthropologin Dr. Michaela Harbeck von der Staatssammlung für Anthropologie München und den Populationsgenetiker Prof. Dr. Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aktuell im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS; DOI: 10.1073/pnas.1719880115) berichtet, folgte auf das Ende des Römischen Reiches und die wechselvolle Phase der Völkerwanderungszeit die Üeriode des frühen Mittelalters und damit eine Epoche in der viele Siedlungen gegründet wurden, die sich in der Folge zu den Dörfern und Städten entwickeln, wie wir sie heute noch kennen: „In Mitteleuropa wird diese Epoche gemeinhin mit verschiedenen barbarischen Stämmen, wie etwa Alamannen, Franken oder Langobarden, in Verbindung gebracht. Welche Bevölkerungen populationsgenetisch tatsächlich hinter diesen Begriffen stecken, ist bislang nicht untersucht worden“, erläutert die Pressemitteilung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).

In ihrer Untersuchung analysierten die Wissenschaftler die alten Genome von etwa 40 mittelalterlichen Menschen aus Süddeutschland: „Während ein Großteil der alten Bayern genetisch wie Mittel- beziehungsweise Nordeuropäer aussieht, fällt eine Gruppe von Individuen völlig aus diesem Raster. Diese Gruppe war zuvor schon durch Verformungen ihrer Schädel aufgefallen. Es ist bekannt, dass solche Deformationen in unterschiedlichen Bevölkerungen und zu unterschiedlichen Zeiten vorgenommen wurden, um dem Schädel eine charakteristische Turmform zu verleihen.“

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„Eltern umwickelten dafür den Kopf ihrer Kinder einige Monate lang nach der Geburt mit Bandagen, um die gewünschte Kopfform zu erreichen“, erläutert Harbeck und führt dazu weiter aus: „Warum sie dieses aufwendige Verfahren durchführten, ist heute schwierig zu beantworten, aber wahrscheinlich wurde damit einem bestimmten Schönheitsideal nachgeeifert oder vielleicht auch eine Gruppenzugehörigkeit angezeigt.“


Stark, mittel und gar nicht deformierte Schädel (v.l.n.r.) aus Altenerding und Straubing.

Copyright: Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München

Während lange Zeit die Hunnen als jene galten, die die Tradition der Schädeldeformation nach Ost- und Mitteleuropa gebracht hatten, zeigt die jetzt durchgeführten historisch-genetischen Untersuchungen jedoch, dass es sich bei den mittelalterlichen Personen mit Schädeldeformation um Frauen handelte, die um 500 n. Chr. aus dem Schwarzmeerraum in die bayerischen Siedlungen migriert waren. „Zwar gibt es deutliche Hinweise, dass es auch Einflüsse aus Zentral- oder gar Ostasien gab, aber die genomische Herkunftsanalyse verweist darauf, dass die Frauen mit deformiertem Schädel genetisch heutigen Bulgaren und Rumänen am ähnlichsten sind“, stellt Burger fest und fügt hinzu: „Ein direkter genetischer Einfluss von zentralasiatischen Hunnen kann nur marginal gewesen sein.“

Dabei unterschieden sich diese Frauen nicht nur durch ihre deformierten Schädel, sondern sie fielen auch durch andere äußerliche Merkmale, etwa durch eine deutlich dunklere Haar- und Augenfarbe, auf. „Die große Mehrheit der anderen Bayern war blond- und blauäugig, so wie man es heute allenfalls in Skandinavien findet.“

Als Grund für die Anwesenheit der fremden Frauen vermuten die Autoren der Studie, dass es sich um hochrangige Bräute politischer Verbündeter aus Rumänien und Bulgarien handeln könnte. Ob ein ähnlicher Brauttausch auch in die umgekehrte Richtung stattgefunden hat, ist bislang nicht bekannt.

Die Theorie wird , die jedoch nicht von allen Kollegen geteilt. So erklärt der Anthropologe Israel Hershkovitz von der Tel Aviv University gegenüber dem Science-Magazine, dass es sich bei den Deformationen der Schädel auch um unbeabscihtige Deformationen handeln könnte: „Schädel können auch unbeabsichtigt verlängert werden, wenn beispielsweise Babys auf festen, hölzernen Oberflächen schlafen und ruhen oder in entsprechenden Vorrichtungen getragen wurden, ohne das die Deformation beabsichtigt wurden.“ Zudem sei es im Falle von politischen Eheschließungen meist nur zum Austausch von ein bis zwei Individuen gekommen und es wäre schon wirklich sehr selten, dass gleich rund ein Dutzend Frauen aus einer Generation verschickt wurden. Dem widerspricht Joachim Burger allerdings und erklärt, dass in keinem der Untersuchten Dörfer mehr als ein paar wenige Langschädelfrauen gefunden worden seien und jedes Dorf durchaus eine eigene politische Identität, mit eigenen Alliierten dargestellt haben könnte. Die dargelegte „politische Theorie“ habe also durchaus Hand und Fuß. Auch die von Hershhkovitz beschriebene „zufällige Deformation“ müsste schon ein wirklich großer Zufall gewesen sein, da sie sich nur bei den Frauen fremder Abstammung, nicht aber innerhalb der angestammten Population finden.

Frühmittelalterliche Grabbeigaben aus Altenerding in Bayern
Copyright: Archäologische Staatssammlung München

Tatsächlich konnten die Wissenschaftler auch keine Hinweise auf andere Bräuche der Zugereisten finden: Haas-Gebhard von der archäologischen Staatssammlung München hat sich zudem mit den Grabbeigaben und der Tracht der alten Bayern beschäftigt und bemerkt: „Die meisten der fremden Frauen sind kulturell dem Rest der Bevölkerung sehr ähnlich und wirken assimiliert. Alleine aus den materiellen Hinterlassenschaften hätten wir diesen Fall nicht so rekonstruieren können.“

Aber die Migration nach Bayern endete nicht mit diesen Frauen. „Nur wenig später lassen sich zwei Personen nachweisen, die ihre nächsten genetischen Verwandten unter heutigen Griechen oder Türken besitzen. Und wieder waren es Frauen. Es ist dies ein einmaliges Beispiel von weiblicher Mobilität, die größere Kulturräume überbrückt“, so Burger. „Wir müssen damit rechnen, dass noch viele weitere, bislang ungeahnte bevölkerungsdynamische Phänomene an der Genese unserer frühen Städte und Dörfer mitgewirkt haben.“

„Interessanterweise finden sich in den untersuchten frühen Einwohnern Bayerns keinerlei genetische Spuren, die auf ein mediterranes Erbe hindeuten, wie es durch Soldaten der römischen Armee hätte kommen können“, ergänzt Harbeck und fügt abschließend hinzu: „Wieviel Kelten und Römer in diesen frühen Bajuwaren stecken, müssen wir allerdings auf noch breiterer Basis weiter untersuchen.“

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Andreas Müller
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