Bremerhaven (Deutschland) – Neue geowissenschaftliche Eiszeit-Befunden stellen die bisherige Vorstellung vom Arktischen Ozean auf den Kopf: Demnach war dieser in den zurückliegenden 150.000 Jahren mindestens zweimal flächendeckend von mehr als 900 Meter dickem Schelfeis bedeckt und enthielt in dieser Zeit kein Salz- sondern ausschließlich Süßwasser. Die neuen Erkenntnisse können nun verschiedene rätselhafte Klimaphänomene, etwa abrupte Klimaschwankungen erklären, für die bislang noch keine Ursache bekannt war.
Wie das Team um den Geochemiker Dr. Walter Geibert vom Alfred-Wegener-Instituts (AWI) gemeinsam mit Kollegen des dem MARUM Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen aktuell im Fachjournal „Nature“ (DOI: 10.1038/s41586-021-03186-y) berichten, konnten sie anhand von Ablagerungen am Meeresboden zeigen, dass die nördlichen Meere – der Arktische Ozean und das Europäische Nordmeer – in wenigstens zwei Eiszeiten kein Salzwasser enthielten: „Stattdessen sammelten sich große Mengen Süßwasser in den Ozeanbecken an, die dann vermutlich schwallweise in den Nordatlantik abflossen. Mithilfe dieser plötzlichen Süßwasser-Einströme lassen sich nun vermutlich abrupte Klimaschwankungen erklären, für die Forscher bislang noch keine schlüssige Ursache gefunden hatten.“
Hintergrund
Vor 60.000 bis 70.000 Jahren, in einer Phase der Weichsel-Eiszeit, waren große Gebiete Nordeuropas und Nordamerikas von Eisschilden bedeckt. Der Europäische Eisschild erstreckte sich nach bisherigem Wissen damals über mehr als 5.000 Kilometer von Irland und Schottland über Skandinavien bis an den Ostrand der Karasee (Arktischer Ozean). In Nordamerika begruben gleich zwei Eisschilde weite Teile des heutigen Kanadas unter sich. Grönland und Gebiete an der Beringmeer-Küste Russlands waren ebenso vergletschert.
(Quelle: AWI)
Da im Gegensatz zum Land, wo Findlinge, Endmoränen und Urstromtäler von der Existenz großer Eisschilde zeugen, es im Gebiet des Arktischen Ozeans bislang nur wenige zusammenhängende Spuren von weit ausgedehnten Schelfeisen gab, war bislang unklar, wie zu dieser Zeit die Eissituation weiter nördlich im Arktischen Ozean aussah. So konnte nur spekuliert werden, ob dieser von dickem Meereis bedeckt war oder ob schwimmende Ausläufer der Eisschilde, die sogenannten Schelfeise, bis weit über den Nordpol hinaus reichten.
Den Forschenden um Geibert ist es nun erstmals gelungen, schlüssige Hinweise aus großen Teilen des Arktischen Ozeans zusammenzutragen und diese neu auszuwerten: „Mit diesen Ergebnissen stellen wir die bislang geltende Vorstellung von der Geschichte des Arktischen Ozeans im Eiszeitklima auf den Kopf. Unseres Wissens nach ist bislang niemand auf die Idee gekommen, dass der Arktische Ozean und das Europäische Nordmeer in dieser Zeit phasenweise nur Eis und Süßwasser enthielten – und das nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal“, erläutert der Wissenschaftler.
Grundlage der Feststellungen bilden geologische Analysen von zehn Sedimentkernen aus verschiedenen Gebieten des Arktischen Ozeans sowie aus der Framstraße und dem Europäischen Nordmeer, wie sie die arktische Klimageschichte der zurückliegenden Eiszeiten abbilden können. Als die Geowissenschaftler die Kerne jedoch Schicht für Schicht untersuchten, fehlte bei allen in den jeweils gleichen zwei Zeiträumen ein entscheidender Anzeiger: „Im salzhaltigen Meerwasser entsteht durch den Zerfall von natürlichem Uran immer das Isotop Thorium-230. Es lagert sich am Meeresboden ab und ist dort wegen seiner Halbwertzeit von 75.000 Jahren auch für sehr lange Zeit nachweisbar.“ Aus diesem Grund nutzen Geologen das Thorium-Isotop denn auch als natürlichen Zeitmesser.
Das nun bemerkte wiederholte und vor allem weit verbreitete Fehlen lieferte nun aber den entscheidenden Hinweis: „Die einzig plausible Erklärung dafür ist unseres Wissens nach, dass der Arktische Ozean zweimal in seiner jüngeren Geschichte nur mit Süßwasser gefüllt war – in flüssiger und in gefrorener Form“, erläutert Co-Autorin und AWI-Mikropaläontologin Dr. Jutta Wollenburg.
Zugleich stellte das Modell die Forschenden sodann aber auch vor die nächste Frage: Wie kann ein Ozeanbecken, das über verschiedenen Wasserstraßen mit dem Nordatlantik und dem Pazifischen Ozean verbunden ist, sich ausschließlich mit Süßwasser füllen? Die Antwort: „Ein solches Szenario ist denkbar, wenn wir davon ausgehen, dass der globale Meeresspiegel während der Eiszeiten bis zu 130 Meter tiefer lag als heute und die Schelfeise auf dem Arktischen Ozean den Austausch der Wassermassen bremsten“, erklärt Co-Autor und AWI-Geologe Prof. Dr. Rüdiger Stein, der zudem auch am MARUM arbeitet.
Weiter führen die Autoren der Studie dazu aus: „Flache Meerengen wie die Beringstraße oder aber die Sunde im kanadischen Archipel waren damals trockengefallen und schieden als Zu- und Abfluss aus. Im Europäischen Nordmeer blockierten vermutlich Eisberge oder aber auf dem Meeresboden aufliegende Gletscherzungen den Abfluss. Zeitgleich aber trugen fließende Gletscher, die sommerliche Eisschmelze und nach Norden verlaufende Flüsse mindestens 1200 Kubikkilometer Süßwasser pro Jahr in den Arktischen Ozean ein. Ein Teil dieser Wassermenge strömte vermutlich nur durch wenige tiefe Gräben im Grönland-Schottland-Rücken über das Europäische Nordmeer in den Nordatlantik und hinderte auf diese Weise Salzwasser daran, nach Norden vorzudringen. Infolgedessen füllte sich der Arktische Ozean nach und nach mit Süßwasser.“
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Als dann dieser Mechanismus der Eisbarrieren jedoch versagte, konnte das schwere Salzwasser wieder in den Arktischen Ozean eindringen. „Wir glauben, dass es dann bei seinem Einstrom das leichtere Süßwasser rasch nach oben verdrängte, sodass sich die gespeicherten Süßwassermengen ab einem gewissen Punkt über den flachsten Rand des Europäischen Nordmeeres, den Grönland-Schottland-Rücken, in den Nordatlantik ergossen“, erläutert Walter Geibert.
Die Vorstellung riesiger Massen an Süßwasser im Arktischen Ozean, die zu bestimmten Zeitpunkten rasch freigesetzt wurden, hilft den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nun auch dabei, eine Vielzahl bekannter Klimaphänomene aus der Vergangenheit besser zu verstehen und miteinander in Einklang zu bringen. „Überreste alter Korallenriffe beispielsweise deuten darauf hin, dass der Meeresspiegel in bestimmten Kaltzeiten höher lag, als Daten aus antarktischen Eisbohrkernen und den Kalkschalen fossiler Meeresorganismen annehmen lassen. Wenn wir nun aber abrücken von unserer alten Vorstellung, dass in Eiszeiten große Mengen Süßwasser nur in Form von Gletschereis an Land gespeichert waren
und stattdessen berücksichtigen, dass sich ein Teil dieses Süßwassers im Arktischen Ozean befunden haben könnte, dann passen die neu abgeleiteten Meeresspiegelhöhen besser zu den Standorten der alten Korallenriffe.“
Zudem könnten die Süßwasser-Pulse aus dem Arktischen Ozean als Erklärung für abrupte Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit dienen. Wie man mittlerweile weiß, hatte sich in dieser Zeit die Temperatur über Grönland mehrere Male innerhalb weniger Jahre um 8 bis 10 Grad Celsius erhöht und war anschließend erst Hunderte Jahre später zum normalen kalten Eiszeitniveau zurückgekehrt. „Wir sehen hier, dass es auch in der jüngeren Erdgeschichte entscheidende Kipppunkte des Erdsystems rund um die Arktis gab. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen und zu überprüfen, ob unsere neue Vorstellung vom Arktischen Ozean hilft, weitere Wissenslücken zu schließen, gerade auch in Bezug auf die Risiken des menschengemachten Klimawandels“, so Walter Geibert abschließend.
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Quelle: AWI
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