Avi Loeb: Interstellarer Exodus
In seinem Gast-Essay verfolgt sich der Harvard-Astronomieprofessor Dr. Avi Loeb auf ein faszinierendes Gedankenexperiment: Könnte eine intelligente Zivilisation auf dem nur 4, 2 Lichtjahre fernen Planeten „Proxima b“ die Erde in Folge eines interstellaren Exodus schon erreicht und dafür einen triftigen Grund gehabt haben?

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– Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Avi Loeb, der am 11. März 2025 im englischsprachigen Original unter dem Titel „Interstellar Passover“ von Prof. Avi Loeb auf Medium.com erstveröffentlicht wurde. Der Text wurde – mit freundlicher Genehmigung des Autors (A. Loeb) – durch www.GrenzWissenschaft-Aktuell.de (GreWi) ins Deutsche übersetzt. Die vom Autor geäußerten Ansichten sind seine eigenen.
Es ist denkbar, dass der erdgroße Planet Proxima b, der sich in der habitablen Zone des sonnennächsten Sterns Proxima Centauri befindet, eine Zivilisation beherbergt, die unserer ähnlich ist.
Aufgrund kleiner Unterschiede in der historischen Entwicklung könnten sie unseren derzeitigen technologischen Stand etwas früher erreicht haben. Ein minimaler Vorsprung in der Wissenschaft von etwa 0,00002 der Erdgeschichte – also rund 100.000 Jahre – würde bedeuten, dass Proxima-Astronomen die Erde bereits vor einem Jahrhunderttausend entdeckt haben könnten, so wie wir „Proxima b“ am 24. August 2016 entdeckt haben. Wie hätte sich diese Entdeckung auf ihr Raumfahrtzeitalter ausgewirkt?
Angetrieben von Neugier hätten die Raketenbauer der fortschrittlichsten Raumfahrtagentur auf „Proxima b“ die lebensfreundliche Erde vielleicht als spannendes Ziel für chemisch betriebene Raketen wählen können – eine visionäre Entscheidung, die die NASA bisher nicht getroffen hat. Vielleicht haben die Bewohner von „Proxima b“ aber auch erkannt, dass Wissenschaft wichtiger ist als Politik, und daher mehr in die Raumfahrt investiert als ins Militär. Damit könnten sie bessere Vorbilder sein als unsere Politiker.
Bei einer Geschwindigkeit von 30 km/s (0,0001 c, c = Lichtgeschwindigkeit im Vakuum) könnten chemische Raketen, die vor 100.000 Jahren von Proxima b gestartet wurden, inzwischen auf der Erde angekommen sein. Etwa zur Zeit dieses Starts verließen die ersten modernen Menschen Afrika – wie ein Fossilfund in Israel zeigt. Da sich „Proxima Centauri“ mit mehreren Dutzend Kilometern pro Sekunde relativ zur Sonne bewegt und früher weiter entfernt war, hätte die Reise etwa 100.000 Jahre gedauert. Doch wären diese chemischen Raketen wirklich die ersten Raumschiffe aus „Proxima b“, die unser Sonnensystem erreichten?
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Wahrscheinlich nicht. In den Jahrhunderten nach dem besagtem ersten Start könnten auf „Proxima b“ fortschrittlichere Antriebstechnologien entwickelt worden sein. Wenn sie etwa 1.000 Jahre nach den chemischen Raketen Wasserstoffantriebe entwickelten, die 0,001 c erreichen, hätte diese zweite Generation die Reise in 10.000 Jahren geschafft – und wäre 89.000 Jahre vor den chemischen Raketen angekommen. Noch 1.000 Jahre später könnten nukleare Antriebe mit 0,01 c die Reise in nur 1.000 Jahren ermöglichen – eine Ankunft 97.000 Jahre früher. Entwickelten sie schließlich Lichtsegel mit Laserantrieb (ähnlich dem des „Breakthrough Starshot Projekt“), wären diese bei 0,1 c in nur einem Jahrhundert hier – 96.900 Jahre vor den ersten chemischen Raketen.
Zusammengefasst: Angenommen, die Geschwindigkeit der Raumfahrt erhöht sich alle 1.000 Jahre um den Faktor zehn, dann wären nuklear betriebene Raumschiffe vor 97.000 Jahren angekommen, Lichtsegel 100 Jahre später, wasserstoffbetriebene vor 89.000 Jahren und chemische Raketen jetzt. Die Wasserstoffraumschiffe wären also Jahrtausende vor dem Bau der Pyramiden angekommen, die fortschrittlichsten sogar schon bei der Auswanderung des Menschen aus Afrika.
Archäologen auf der Erde könnten durch die Analyse der Ankunftszeit interstellarer Technologien deren Ursprung und Geschwindigkeit rückverfolgen – und daraus die Entwicklung der Raumfahrt auf „Proxima b“ rekonstruieren. Dies wäre der Beginn eines neuen Forschungsfelds: Archäologie interstellarer Antriebe.
Daraus folgt: Wir sollten erwarten, dass uns fortschrittliche Technologien besuchen, lange bevor wir chemische Raketen entdecken. Wie ich in einer aktuellen Arbeit mit meinem Studenten Shokhruz Kakharov gezeigt habe, würden selbst die langsamsten chemischen Raketen Milliarden Jahre benötigen, um uns aus dem gegenüberliegenden Teil der Milchstraße zu erreichen. Da die meisten Sterne Milliarden Jahre älter als die Sonne sind, könnten viele galaktische Raumschiffe auf dem Weg hierher oder sogar längst hier sein.
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Die dokumentierte Menschheitsgeschichte ist nur 8.000 Jahre alt. Doch Archäologen oder Geologen könnten Hinweise auf Technologien finden, die weit über unseren Stand hinausgehen. Möglicherweise war eine solche Begegnung sogar der Auslöser für menschliche Intelligenz – und Biologen könnten dazu passende Anomalien im menschlichen Erbgut finden.
Eine neue Studie zeigt, dass der Rote Zwergstern Proxima Centauri häufig starke Flares aussendet – jede mit der Energie einer Hiroshima-Bombe im Minutentakt. Die vergleichsweise ruhige Sonne könnte daher für eine technologische Zivilisation auf „Proxima b“ attraktiver erscheinen. Die Entdeckung der Erde als bevorzugtes Ziel könnte eine Massenmigration ausgelöst haben – eine Art interstellaren Exodus, weit größer als die biblische der Israeliten aus Ägypten. Die Ankunftszeit der Proxima-Migranten auf der Erde hinge von ihren Abflugzeiten und verwendeten Antriebstechnologien ab.
Wenn sich die Reisezeiten stark verkürzen, könnte es sein, dass die Nachfahren der letzten, aber mit fortschrittlicher Technik gestarteten Migranten die ersten sind, die ankommen. Die Nachkommen der ungeduldigen, langsam reisenden Pioniere würden auf einer Erde ankommen, die nicht nur von Menschen, sondern auch von später angereisten Proxima-Nachfahren bewohnt ist. Die Erde würde ihnen wie eine Zeitmaschine erscheinen, die die Technologiegeschichte ihres Heimatplaneten rückwärts abspielt.
Prof. Dr. Avi Loeb ist Leiter des „Galileo-Projekts“ in Harvard, einer systematischenwissenschaftlichen Suche nach Beweisen für außerirdische technologische Artefakte. Loeb ist Gründungsdirektor von Harvards Black Hole Initiative, Direktor des Institute for Theory and Computation am Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics und Vorsitzender des Beirats des Breakthrough Starshot-Projekts. Er ist Autor des Buches „Außerirdisch: Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten“.
© Avi Loeb