Hirn-Evolution lief anders: Urzeit-Mini-Äffchen hatte schon komplexes Gehirn
New York (USA) – Die Evolution des Gehirns anthropoider Primaten, zu denen sowohl Gruppen moderner wie auch ausgestorbener Affen, Menschenaffen und Menschen gehören, galt bislang als mit der Zeit einhergehender progressive Prozess hin zu immer größeren und komplexeren Strukturen. Die Analyse eines der ältesten bekannten vollständigen Primatenschädels legt nun eine sehr viel komplexere Evolutionsgeschichte unseres Gehirns nahe.
Wie das Forscherteam um John Flynn vom American Museum of Natural History und Xijun Ni von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften aktuell im Fachjournal “Science Advances” (DOI: 10.1126/sciadv.aav7913) berichtet, zeigt die Analyse des rund 20 Millionen Jahre alten Schädels der Neuweltaffenart Chilecebus carrascoensis, dass sich das anthropoide Gehirn immer wieder und unabhängig während der Geschichte anthropoiden Arten vergrößert und verändert hat und das Gehirn schon bei frühen Arten der Gruppe sehr viel komplexer ausgebildet sein konnte als bislang für möglich gehalten.
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„Wir Menschen haben ein außergewöhnlich vergrößertes Gehirn, aber wir wissen tatsächlich recht wenig darüber, wie weit diese Eigenschaft zurückgeht und wann die Entwicklung dahin eingesetzt hat“, erläutert Ni und führt dazu weiter aus: „Das liegt teilweise daran, dass nur wenige Beispiele von urzeitlichen Schädeln unserer frühen Verwandten vollständig erhalten sind, um entsprechende Analysen durchzuführen.“
Der jetzt eingehend studierte Chilecebus-carrascoensis-Schädel wurde in den chilenischen Anden entdeckt und erfüllt trotz seines enormen Alters den Anspruch der Wissenschaftler.
Schon zuvor hatten die Forscher das Hirn-Körper-Verhältnis (Enzephalisation) des Fundes bestimmt. Ein hoher Enzephalisation-Quotient (EG) steht für ein zum Restkörper proportional besonders großes Gehirn.
Zwar haben die meisten Primaten im Vergleich zu anderen Säugetieren einen vergleichbar hohen EQ, doch liegt dieser bei einigen Primaten, wie dem Menschen und ihren nächsten verwandten, noch deutlich über der Norm.
Ein neues Verfahren bezieht nun die Effekte nahe evolutionärer Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Arten in den sog. phylogenetischen Enzephalisation-Quotient (PEQ) mit ein. Während dieser bei Chilecebus-carrascoensis mit einem Wert von 0,79 relativ gering ist (bei heute noch lebenden Affen liegt er bei 0,89-3,39 und erreicht beim Menschen, der zu den Altweltaffen zählt, bis zu 13,46), belegen die im untersuchten Schädel heute noch sichtbaren Hirnfurchen, dass das Gehirn selbst schon ungewöhnlich komplex strukturiert war – obwohl es mit dem Menschen nur vergleichsweise weit entfernt verwandt ist, auch wenn sich die Schädel selbst ebenfalls erstaunlich ähnlich sind. Zudem zeigte sich, dass bei Chilecebus-carrascoensis die unterschiedlichen Hirn-Areale nicht – wie bislang auf der Grundlage der Vorstellung zur Hirnevolution vermutet – stetig und gleichmäßig gewachsen waren.
Die Wissenschaftler und Wissenschaftler schlussfolgern deshalb, dass die Vergrößerung des Gehirns offenbar mehrfach stattgefunden hatte und einzelnen Areale mal gewachsen und mal geschrumpft sind. Ein großes Gehirn sei demnach auch nicht zwingend das Ergebnis einer linearen Entwicklung innerhalb einer einzelnen Affenart, wie sie an die Nachkommen weitergegeben wurde.
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