Exeter (Großbritannien) – Im Bemühen um Interpretationen von Zehntausenden von Felskunstmotiven in der kolumbianischen Amazonasregion, haben sich Archäologen mit den Ältesten indigener Stämme und Ritualspezialisten beraten, um deren Bedeutung besser zu verstehen. Das Ergebnis zeichnet ein faszinierendes Bild der von den Ureinwohnern als real wahrgenommen Vielfalt an Geistwesen, die sich unsere Welt mit uns teilen.
Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Professor Jamie Hampson von der University of Exeter aktuell in einer Sonderausgabe des Fachjournals „Advances in Rock Art Studies“ (DOI: 10.3390/arts13040135) berichten, zeigen die in der Serranía De La Lindosa-Region im Nordwesten Kolumbiens entdeckten, über 11.000 Jahre alten ockerfarbenen Gemälde neben verstandenen, einheimischen Wildtieren wie Jaguare und Anakondas, die in Schöpfungsgeschichten eine wichtige Rolle spielen, auch Szenen, in denen sich Menschen in Tiere zu verwandeln scheinen.
Bilder aus einer anderen Welt
Um diese Darstellungen besser zu verstehen, luden die Forschenden indigene Experten ein, um die Bildtafeln zu betrachten und ihre Interpretationen aufzuzeichnen. Diese Perspektiven kombinierten sie sodann mit anderen Forschungsmethoden und kamen zu dem Schluss, dass die Kunstwerke von Ritualspezialisten stammen und nicht nur eine wörtliche-bildhafte Abbildung der Umwelt darstellen, in der sie lebten, sondern die spirituelle Welten verhandeln und die Verbindung zwischen Mensch und Naturwelt ausdrücken.
Hintergrund
Erst 2020 entdeckt, stellen die Bildertafeln im kolumbianischen Amazonasgebiet einen kilometerlangen und vermutlich den weltweit längsten Bilderfries mit urzeitlichen Felszeichnungen. Die Zeichnungen sind vermutlich zwischen 12.600 und 11.800 Jahre alt. Neben Tierdarstellungen wurden hauptsächlich geometrische Muster, menschliche Figuren, Handabdrücke, Jagdszenen und Menschen dargestellt, die mit Pflanzen, Bäumen und Savannentieren interagieren. Da einige der Abbildungen in unzugänglichen Höhen mit natürlichem Ocker-Pigment aufgebracht wurden, gehen die Forscher davon aus, dass spezielle Holzleitern genutzt wurden (…GreWi berichtete).
„Die Nachfahren der ursprünglichen Künstler haben uns kürzlich erklärt, dass die Felsmotive hier nicht einfach das widerspiegeln, was die Künstler in der realen Welt sahen“, erläutert Hampson. „Sie enthalten wichtige Informationen darüber, wie animistische und perspektivische indigene Gemeinschaften ihre ritualisierten, sozio-kulturellen Welten konstruierten und pflegten. Wie der Matapí-Ritualspezialist Ulderico 2022 vor einer bemalten Tafel sagte: ‚Man muss die Motive aus der schamanischen Perspektive betrachten.'“
Stammesälteste deuten Felsenkunst spirituell
Zwischen 2021 und 2023 begleiteten die Forscher zehn indigene Älteste und Ritualspezialisten zu sechs Tafeln des Cerro Azul in Serranía De La Lindosa. Die Ältesten, die Spanisch oder indigene Sprachen wie Desana, Tukano und Nukak sprachen, wurden dabei aufgenommen und ihre Aussagen übersetzt.
Die Stammesältesten waren besonders an therianthropischen Darstellungen interessiert, in denen Mensch-Tier-Verwandlungen gezeigt werden, z. B. in Verbindungen zwischen Vogel, Faultier, Schlangen und Mensch-Figuren. Hierzu erläuterte Tukano-Sprecher Ismael Sierra 2023, dass die dargestellten Tiere im spirituellen Reich existieren und dass einige Figuren, wie ein zweiköpfiger „Pantherlöwe“, aus eben dieser spirituellen Welt stammen.
Bilder von Geisterhand
Victor Caycedo, ein Desana-Ältester, der die Forscher 2022 und 2023 begleitete, sagte sogar, dass die Gemälde selbst von Geistern geschaffen wurden. Er wies auf Motive weit oben an der Felswand hin und fragte rhetorisch, wie die Menschen damals dorthin gelangt seien sollen, um zu malen. Für spirituelle Wesen kein Problem.
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Die Forscher betonen, dass die Tiere, die zwischen Erde, Wasser und Himmel wandeln, wie Anakondas, Jaguare, Fledermäuse und Reiher, in den schamanischen Transformationen eine besondere Bedeutung haben. „Die Ältesten sahen diese Bilder als Verkörperungen schamanischen Wissens und betonten die Wichtigkeit, die Bilder zu erhalten, um die Verbindung zu den Ahnen und Traditionen der indigenen Bevölkerung nicht zu verlieren.“
Wissenschaft trifft auf altes rituelles Wissen
Diese Zusammenarbeit wurde durch die Entwicklung eines Programms zur Förderung des nachhaltigen Kulturerbe-Tourismus in der Region unterstützt. „Es ist das erste Mal, dass die Ansichten indigener Ältester zur Felskunst ihrer Vorfahren vollständig in die Forschung in diesem Teil des Amazonasgebiets einbezogen wurden“, erklärt Hampson abschließend. „Dadurch können wir verstehen, warum bestimmte Motive gemalt wurden und was sie bedeuten – dass es sich um eine sakrale, ritualistische Kunst handelt, die innerhalb einer animistischen Kosmologie in heiligen Orten der Landschaft geschaffen wurde. Es zeigt, wie wichtig es ist, die Glaubenssysteme und Mythen der indigenen Bevölkerung ernst zu nehmen.“
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Recherchequelle: University of Exeter
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