Keilschriften enthüllen, wie Menschen im antiken Mesopotamien Emotionen erlebten
Espoo (Finnland) – Die meisten Menschen erleben Gefühle und Emotionen nicht nur seelisch, sondern assoziieren diese oft auch mit bestimmten Körperregionen und Organen. Eine Analyse antiker Texte aus dem alten Mesopotamien zeigt, dass dies schon früher so war und wie die Menschen damals ihre Emotionen körperlich wahrnahmen.
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Ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Assyriologin Prof. Saana Svärd von der Universität Helsinki, an dem auch Forschende der Universität Mainz beteiligt waren, analysierte eine Million Wörter der antiken akkadischen Sprache, die zwischen 934 und 612 v. Chr. in Keilschrift auf Tontafeln in Mesopotamien (dem heutigen Irak) festgehalten wurden.
Eine Verbindung von Anatomie und Emotionen
Wie die Forschenden aktuell im Fachjournal „iScience“ (DOI: 10.1016/j.isci.2024.111365) berichten, gab es schon im antiken Mesopotamien ein grobes Verständnis von Anatomie, beispielsweise über die Bedeutung von Herz, Leber und Lunge. „Eine der faszinierendsten Erkenntnisse betrifft die Wahrnehmung von Glück, das oft durch Wörter beschrieben wurde, die mit einem Gefühl von ‚Offenheit‘, ‚Leuchten‘ oder ‚Fülle‘ verbunden sind – und dies in der Leber“, berichtet Svärd.
„Vergleicht man die antike mesopotamische Karte des Glücksgefühls mit modernen Körperkarten [veröffentlicht von dem finnischen Wissenschaftler Lauri Nummenmaa und seinen Kollegen vor etwa einem Jahrzehnt, so zeigt sich eine weitgehende Ähnlichkeit – mit Ausnahme eines auffälligen Leuchtens in der Leber“, erläutert der an der Studie beteiligte Kognitionsneurowissenschaftler Juha Lahnakoski, von der Aalto-Universität.
Weitere Unterschiede zwischen heutigen Menschen und jenen in Mesopotamien zeigen sich bei Emotionen wie Wut und Liebe. Lut früheren Untersuchungen empfinden moderne Menschen Wut im Oberkörper und in den Händen, während Mesopotamier sich am meisten „erhitzt“, „aufgebracht“ oder „wütend“ in ihren Füßen fühlten.
Liebe hingegen wird sowohl von modernen und neu-assyrischen Menschen recht ähnlich empfunden, in Mesopotamien jedoch besonders mit der Leber, dem Herzen und den Knien assoziiert (s. Titelabb.).
„Es bleibt abzuwarten, ob wir in Zukunft Aussagen darüber treffen können, welche Art von emotionalen Erfahrungen für Menschen allgemein typisch sind und ob beispielsweise Angst immer in denselben Körperregionen empfunden wurde. Außerdem müssen wir uns bewusst machen, dass Texte Texte sind und Emotionen gelebt und erlebt werden“, betont Svärd.
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Fragen und Verständnislücken bleiben
Die Forscher mahnen aber auch zur Vorsicht, wenn man moderne Körperkarten, die auf selbstberichteten körperlichen Erfahrungen basieren, mit den Karten der Mesopotamier vergleicht, da Letztere allein auf sprachlichen Beschreibungen beruhen.
Da die Alphabetisierung in Mesopotamien (3000–300 v. Chr.) selten war, wurden Keilschrifttexte zudem hauptsächlich von Schreibern verfasst und waren daher nur wohlhabenden Personen zugänglich. Dennoch enthielten die Tontafeln eine Vielzahl von Texten wie Steuerlisten, Verkaufsdokumente, Gebete, Literatur sowie frühe historische und mathematische Schriften.
Antike Texte des Nahen Ostens wurden noch nie auf diese Weise untersucht, indem Emotionen quantitativ mit Körperteilen verknüpft wurden. Diese Methode könnte in Zukunft auf andere Sprachmaterialien angewandt werden. „Es könnte ein nützliches Werkzeug sein, um interkulturelle Unterschiede in der Art und Weise zu erforschen, wie wir Emotionen erleben“, sagt Svärd, die hofft, dass die Forschung eine interessante Diskussion über die Universalität von Emotionen anstoßen wird.
Weitere Studien sind geplant
Die angewandte korpuslinguistische Methode, die große Textmengen nutzt, wurde über viele Jahre am Exzellenzzentrum für antike Nahostreiche (ANEE) unter der Leitung von Svärd entwickelt. Als Nächstes plant das Forschungsteam die Untersuchung eines englischen Textkorpus aus dem 20. Jahrhundert mit 100 Millionen Wörtern. Ähnlich wollen sie auch finnische Daten analysieren.
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Ausdruck der Gefühle: Studie findet paradoxen Zusammenhang bei der Wahrnehmung von Emotionen 15. Juni 2021
Recherchequelle: Aalto University
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