Knochentraumata: Erste Städte förderten Gewalt
Tübingen (Deutschland) – Einhergehend mit der Entstehung der ersten Städte vor rund stieg zunächst auch die Rate gewaltsamer Tode, sank dann aber auch wieder ab. Das zeigt die Auswertung von über 3.500 Schädelfunden aus dem Nahen Osten.
„Die Entstehung der frühesten Städte im Zweistromland und dem Nahen Osten ließ die Gewalt zwischen ihren Bewohnern steigen. Durch Gesetze, eine zentrale Verwaltung, Handel und Kultur sank die Rate gewaltsamer Tode aber wieder in der frühen und mittleren Bronzezeit (3.300 bis 1.500 v.Chr).“ Zu diesem Befund kommt ein internationales Forscherteam der Universitäten Tübingen, Barcelona und Warschau.
Wie das Team um Professor Jörg Baten vom Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte der Universität Tübingen aktuell im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ (DOI: 10.1038/s41562-023-01700-y) berichtet, wurden 3.539 Skelette aus dem Gebiet des heutigen Iran, Irak, Jordanien, Syrien, Libanon, Israel und der Türkei auf Knochentraumata untersucht, die nur durch Gewalt zustande kommen konnten. Auf diese Weise war es den Forschenden möglich, ein differenziertes Bild der Entwicklung der zwischenmenschlichen Gewalt in der Zeit von 12.000 bis 400 Jahre v.Chr. zeichnen – einem Zeitraum in den grundlegende Veränderungen in der Menschheitsgeschichte wie die Erfindung des Ackerbaus, die Sesshaftwerdung des Menschen und das Entstehen der ersten Städte und Staaten fallen.
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„Die Mordrate erreichte im Zeitraum von 4.500 bis 3.300 Jahre vor unserer Zeitenwende einen Höhepunkt und sank dann wieder im Laufe der folgenden 2.000 Jahre“, erläutert Baten und führt weiter aus: „Mit der Klimakrise, steigender Ungleichheit und dem Kollaps wichtiger Staaten in der späten Bronzezeit und frühen Eisenzeit (1.500 – 400 v. Chr.) steigt die Gewaltanwendung erneut.“ Der Anteil der gewaltsamen Todesfälle, der sich an Schädeltraumata und Waffenverletzungen wie zum Beispiel Pfeilspitzen in Skeletten ablesen lässt, sei dabei ein gängiger Indikator für interpersonelle Gewalt.
Zugleich teilt sich die Forschung zum Thema teilt bislang aber in zwei Lager: „Das erste um den amerikanischen Psychologen Steven Pinker behauptet eine stetige Abnahme der Gewaltanwendung über die Jahrtausende seit der Zeit vorstaatlicher Jäger- und Sammlergesellschaften bis heute. Das zweite Lager sieht in der Entstehung von Städten und einer Zentralgewalt überhaupt erst die Voraussetzung für Kriege und massive Gewaltanwendung, die sich seither fortsetze. Unsere Studie zeichnet nun ein differenziertes Bild“, so die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.
Gründe für das Ansteigen der Gewalt im 5. und 4. Jahrtausend v. Chr. seien die Zusammenballung der Menschen in den ersten Städten, die jedoch noch nicht gut organisiert waren. „Erst durch die Entwicklung von Rechtssystemen, einer zentral kontrollierten Armee und religiöser Feste konnte die Gewaltrate merklich gesenkt werden.“ Auch der Handel nahm in der frühen und späten Bronzezeit im östlichen Mittelmeerraum und Mesopotamien zu, was durch Tontafeln in Keilschrift belegt werden kann, die als Lieferscheine und Rechnungen dienten. „Die höhere Sicherheit in dieser Zeit war zunächst sogar trotz abnehmender landwirtschaftlicher Erträge und zunehmender Ungleichverteilung der Einkommen in der Mittleren Bronzezeit möglich“, sagte Giacomo Benati von der Universität Barcelona und Co-Autor der Studie.
Ein erneuter Wendepunkt ist der Zusammenbruch zahlreicher Hochkulturen in der späten Bronzezeit. In diese Phase um 1.200 v.Chr. fallen auch eine 300 Jahre andauernde Klimakatastrophe und damit zusammenhängende Migrationsbewegungen, durch die dann auch die Rate gewaltsamer Tode wieder anstieg.
Recherchequelle: Universität Tübingen
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