Fairfax (USA) – Die sogenannte westliche Zivilisation, bzw. die psychologische Grundlage deren Wertegemein- und Gesellschaften,wie sie sich auffallend von den meisten anderen Weltbevölkerungsgruppen unterscheidet, könnte ihren Ursprung in der Tabuisierung von Verwandtschaftsbeziehungen wie Inzest und Vielehe durch die frühe Kirche in Europa gehabt haben. Zu dieser Schlussfolgerung kommen zumindest US-Wissenschaftler in einer aktuellen Studie.
Neben zahlreichen anderen Beschlüssen, die den späteren Katholizismus gegen den Airanismus stärken, die Kirche enger zusammenzuschließen und die Kirchendisziplin aufrechtzuerhalten sollten, beschlossen im September 506 auf der Synode von Agde 35 Bischöfe aus dem südlichen Gallien auch den „Besuch“ ihnen nicht verwandter Frauen durch Kirchenmänner sowie die Ehe zwischen Personen, die enger miteinander verwandt waren als Cousin oder Cousinen dritten Grades.
Dieses auf den ersten Blick vielleicht trivial erscheine Inzestverbot sei es gewesen, das die psychologische Grundlage für das legte, was wir heute als „Psychologie der westliche Zivilisation“ bezeichnen, so der Schluss der Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Jonathan Schulz von der George-Mason-Universität und Joseph Henrich von der Harvard University, die aktuell im Fachjournal „Science“ (DOI: 10.1126/science.aau5141) veröffentlicht wurde.
Die grundlegenden Werte dieser westlichen Kultur, wie sie in Westeuropa, Nordamerika und Australien zu finden sei, sehen die Autoren in demokratischen Institutionen, dem Invidualismus, Nonkonformismus und dem Willen zur Kooperation mit Fremden. Tatsächlich unterscheiden sich diese heutigen „westlichen Eigenschaften“ von denen der meisten anderen Weltbevölkerungsgruppen. Genau diese Werte seien es denn auch gewesen, die durch den Bann von Inzest-Ehen, wie sie die bis dahin in Europa existierenden und vorherrschenden, meist auf Verwandschaftung basierenden Sozialstrukturen zusehends schwächten, dafür aber Begriffe und Werte die Unabhängigkeit, Nonkonformität und den Willen zur Zusammenarbeit auch mit Fremden stärkten. Mit dem Einfluss der Kirche wuchs, verbreiteten und verfestigten sich damit einhergehend auch besagte psychologische Eigenschaften, so die Autoren der Studie.
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Tatsächlich war Europa bis zur Einführung dieser Kirchenregularien geprägt von landwirtschaftlichen Gesellschaften und Gemeinschaften, wie sie rund um den Globus zu finden waren und teilweise noch heute sind. Diese Gesellschaften beruhten meist auf einem Netzwerk aus mit einander verwandten Gruppen, verwandtschafteten Stämmen und Clans. Auf diese Weise der Kooperation war es schließlich auch einfacher, Nahrungsmittel anzubauen und Ländereien zu beschützen und Besitz zu vererben. „Die Heirat zwischen Cousins und Cousinen war beispielsweise ein einfacher Weg, diese Familienbande aufrecht und zu stärken“, erläutert Henrich. „Tatsächlich wurden Ehen zwischen Cousins und Cousinen in nicht wenigen europäischen Gesellschaften aktiv gefördert, um so den Wohlstand innerhalb der Familie zu festigen und zu sichern.“
Irgendwann im 6. Jahrhundert fixierten sich die damaligen Kirchenoberhäupter dann aber auf die Tabuisierung dieser Form des Inzests. Über den genauen Grund hierfür streiten sich Historiker bis heute.
Neben dem Verbot einen Cousin oder Cousin ersten und zweiten Grades zu heiraten, weitete die Kirche ihre Regeln auch auf andere Facetten der Familien- und Eheplanung aus. So war fortan auch das Konkurbinat sowie die sogenannte Schwagerehe untersagt – eine Sitte, nach welcher der Bruder eines kinderlos Verstorbenen dessen Witwe zu heirateten hatte.
„Noch heute finden wir Reste dieser Verbote in der Frage des Pfarrers an die Hochzeitsgemeinde ob es denn einen gibt, der Einwände gegen die Ehe habe. Tatsächlich wird damit gefragt, ob jemand der Anwesenden wisse, ob es sich bei dem Brautpaar um Cousins und Cousinen handelt“, erläutert Henrich.
Während traditionelle Verwandtschaftsstrukturen auch für gewöhnlich mit der gesellschaftlichen Unterordnung unter die Regeln der Ältesten und Vorfahren mit sich brachten, führte der Kirchenzwang zur Ehe und Kleinfamilien so außerhalb dieser Familienbande laut den Forschern dazu, dass traditionelle Werte aufgebrochen wurden, was zugleich den Weg zur Prägung neuer Werte öffnete – Werte die Individualismus, Nonkonformität (mit den alten Banden und Werten) und weniger Vorurteile gegenüber Fremden.
„Diese neuen Werte sind nicht gerade das, woran man vielleicht als erstes denkt, wenn man sich über den Einfluss der katholischen Kirche Gedanken macht“, kommentiert der an der Studie nicht beteiligte Philosoph Stephen Stich von der Rutgers University gegenüber dem „Science Magazine“ und vermutet, dass dies auch der Grund dafür ist, dass sich bislang noch niemand diese Verbindung zwischen der katholischen Kirche und dem Aufkommen der westlichen Psychologie hergestellt hat.
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Um ihre Hypothese zu überprüfen erstellten die Wissenschaftler um Henrich eine umfangreiche Datenbank historischer Aufzeichnungen über den Einfluss der Kirche in allen Staaten der Erde, beginnend im ersten Jahrhundert nach Christus bis ins Jahr 1500, als die Christianisierung Europas nahezu vollständig abgeschlossen war.
In einem nächsten Schritt zogen sie anthropologische Daten über Verwandschaftsbeziehungen zu den großen ethnolinguistischen Gruppen hinzu, aus denen Raten von Verwandtenheirat, Polygamie (Vielehe) und anderer Faktoren hervorgehen. Abschließend werteten sie auch die Ergebnisse zahlreicher anerkannter internationaler Studien über die Verbreitung moderner Eigenschaften wie Individualismus, Kreativität, Nonkonformität, Gehorsam oder Vertrauen in Eigen- oder/und Fremdgruppen aus.
Alle diese Daten zusammengeführt, zeigen die Wissenschaftler um Henrich, dass der Intensitätsgrad der Verwandtschaftsverbindungen geringer wird, je länger eine Population bereits unter den Gesetzen der katholischen Kirche lebt(e). Zudem zeigte sich, dass bei steigender Abnahme von Verwandtschaftsverhältnissen Eigenschaften wie Individualismus, Nonkonformität und die Bereitschaft Fremden zu vertrauen und zu helfen, steigen. Genau diese Konstellation von Eigenschaften sei es denn auch, die das vorherrschenden psychologische Profil von Menschen in westlichen Gesellschaften mit einem hohen Grad an Industrialisierung, Wohlstand und Demokratie ausmachen. (Henrich und Kollegen sprechen hier von sogenannten WEIRD-Gesellschaften, basierend auf den englischen Begriffen „Western, Educated, Industraliazied, Rich, Democratic“.)
Als Ergebnis der Studie werde deutlich, dass die Kirchenverbote gegenüber der Verwandtenehe und Polygamie die traditionellen europäischen Familiennetzwerke schwächten und diese durch Eigenschaften ersetzte, wie wir sie heute mit den modernen westlichen Werten und der darauf basierenden Zivilisation, deren Sitten Bräuchen und Normen gleichsetzen.
Zugleich zeige die Studie, dass eine Analyse des (psychologischen) Verhaltens von Menschen in WEIRD-Ländern nicht mit Untersuchungen anderer Verhaltensformen gleichgesetzt werden könne.
Die in der Studie identifizierten Eigenschaften und Werte hätten, so die Autoren der Studie weiter, den Weg zur Vorherrschaft der Demokratie geebnet: „Man braucht bürgerliches Engagement, um die Demokratie aufrecht zu erhalten“, erläutert Mitautor Jonathan Schultz von der George Mason University in Fairfax. „Das sind individuelle Menschen, die auch über Familiengrenzen hinweg zusammenarbeiten und miteinander kooperieren.“
Allerdings gibt es auch Kritik an der Studie. So zitiert „Der Tagesspiegel“ den 2. Vorsitzenden der deutschen Gesellschaft für Kulturpsychologie, Pradeep Chakkarath. Dieser weise darauf hin, „dass die Untersuchung zwar durchaus interessante Korrelationen nachweise, solche Korrelationen womöglich aber auch mit anderen, unbeachtet gebliebenen historischen Faktoren bestehen. Die These von Schulz und seinem Team vereinfache durch die Betonung von nur einem Faktor zu stark. Die Untersuchung blende etwa einflussreiche Theorien aus, wonach der Individualismus (…) nicht primär auf katholische Einflüsse, sondern auf die Entstehung des protestantischen Menschenbildes seit dem 15. Jahrhundert zurückgehe.“ Demnach wären die Ergebnisse der Studie überzeugender, hätte man zumindest auch diesen Zusammenhang getestet oder wenigstens dazu Stellung genommen. Chakkarath wünsche sich auch „eine Unterscheidung der verschiedenen Formen von Individualismus, die nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Kontext zu Kontext – beispielsweise in der Familie im Gegensatz zum Arbeitsumfeld – variieren können“.
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Quelle: Science Magazine
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