Neue Studie sieht in Teilen des Voynich-Manuskripts geheime Darstellungen von „Frauengeheimnissen“

Frauendarstellungen im Voynich-Manuskript. Quelle: Brewer u. Lewis / Yale University Library
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Frauendarstellungen im Voynich-Manuskript.Quelle: Brewer u. Lewis / Yale University Library

Frauendarstellungen im Voynich-Manuskript.
Quelle: Brewer u. Lewis / Yale University Library

Sydney (Australien) – Das sogenannte Voynich-Manuskript ist ein mittelalterliches Buch, das in einer bis heute nicht decodierten Schrift geschrieben und mit unzähligen rätselhaften Abbildungen illustriert wurde. Schon oft wurde versucht, das „unlesbare Buch“ zu entziffern. Eine neue Studie legt nun eine weitere Lesart vor.

Wie Keagan Brewer von der Macquarie University und Michelle L. Lewis aktuell im Fachjournal „Social History of Medicine“ (DOI: 10.1093/shm/hkad099) berichten, beruht ihre neue Deutung zahlreicher Abbildungen im Voynich-Manuskript auf den Arbeiten des spätmittelalterlichen Gelehrten und Arztes Johannes Hartlieb, der neben seinen zahlreichen anderen Tätigkeiten zunächst Werke über Magie und Aberglaube verfasst, von denen er sich später dann jedoch in weiteren sittlichen Schriften distanziert hatte.

Wie Brewer in einem ausführlichen Artikel auf TheConversation.com darlegt, verorten sie (wie schon frühere Forscher) zunächst die Entstehung und damit auch den bis heute unbekannten Autor des Manuskripts anhand etwa von Darstellungen eines bestimmten Burgentyps in die Region des mittelalterlichen südlichen Deutschlands bzw. Norditaliens.

Zahlreiche Darstellungen von meist nackten Frauen zeigen diese zudem mit verschiedenen Objekten, die sie in Richtung ihres Unterleibes oder Genitalien halten. Vor dem Hintergrund, dass andere Autoren im Voynich-Manuskript anhand anderer Darstellungen bereits ein astronomisches und pflanzenkundliches Werk vermuteten, weisen Brewer und Lewis daraufhin, dass solche expliziten Darstellungen in der Regel nicht Teil rein herbaler oder astronomischer Manuskripte waren.

„Um diese Bilder zu verstehen, haben wir die Kultur der spätmittelalterlichen Gynäkologie und Sexualwissenschaft untersucht – die Ärzte damals oft als ‚Frauengeheimnisse‘ bezeichneten“, erklärt Brewer.

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Als Vergleich ziehen die Historiker nun die Werke Hartliebs heran, der vermutlich zwischen 1410–1468) ebenfalls zahlreiche Werke über Pflanzen, Astronomie, Frauen, Magie und Bäderheilkunde verfasst hatte. „Schon Hartlieb empfahl damals die Verwendung von ‚geheimen Buchstaben‘ [Symbolen], um obskure medizinische Rezepte und Prozeduren darzustellen und zu umschreiben, die etwa zur Empfängnisverhütung, Abtreibung oder Sterilität führen konnten.“

„Obwohl sein geheimes Alphabet nicht überdauert hat, hat die Analyse seiner Arbeit uns geholfen, jene Einstellungen zu verstehen, die damals die Verwendung von Verschlüsselung inspiriert haben könnten. Zum Beispiel empfand Hartlieb eine starke Besorgnis darüber, dass ‚Frauengeheimnisse‘ allgemein bekannt werden könnten. Er befürchtete, dass seine Schriften außerehelichen Sex erleichtern könnten und dass Gott ihn verurteilen würde, wenn dies passieren würde.“

So habe Hartlieb etwa in seinen unverschlüsselten Schriften es vermieden, über bestimmte Themen wie postpartale vaginale Salben, die sexuelle Lust der Frauen, Behauptungen über Frauen, die Tiere gebären, die „richtigen“ Geschlechtsverkehrsstellungen zur Empfängnis, libido-verändernde Ernährungsratschläge oder über giftige, halluzinogene, kontrazeptive oder abortive Pflanzen direkt zu schreiben.

„In seinen Schriften, die der Gelehrte vornehmlich für männliche Aristokraten in der bayerischen Volkssprache (anstatt in akademischem Latein) verfasst und übersetzt hatte, sagt Hartlieb, dass dieses Wissen von Sexarbeiterinnen, einfachen Leuten, Kindern und in einigen Fällen sogar von den Frauen selbst zurückgehalten werden sollte – die zunehmend lesen und schreiben lernten. „Als Mann, der die heterosexuelle Ehe und die ‚Bescheidenheit‘ der Frauen schätzte und der Lust, Promiskuität und Prostitution verurteilte, entsprach er vollkommen den konventionellen Vorstellungen seiner Zeit“, erläutert Brewer weiter.

Entsprechend verschleierte Schilderungen und Darstellungen fanden Lewis und Brewer zuvor schon in zahlreichen anderen zeitgenössischen Werken aus dem süddeutschen Raum und nun eben auch im Voynich-Manuskript.

Die größte Darstellung im Vonich-Manuskript, die sog. Rosetten.Quellen: Brewer u. Lewis / Yale University Library

Die größte Darstellung im Vonich-Manuskript, die sog. Rosetten.
Quellen: Brewer u. Lewis / Yale University Library

„Durch die Analyse der Voynich-Illustrationen aus dieser Perspektive schlagen wir vor, dass die sog. Rosetten – die größte und aufwendigste Illustration des Manuskripts – eine spätmittelalterliche Vorstellung von Geschlechtsverkehr und Empfängnis darstellen. Unser Vorschlag entspricht der patriarchalischen Kultur der Zeit und löst viele der scheinbaren Widersprüche des Manuskripts.“

Anschaulich zeigt Brewer in seinem Artikel auf TheConversation.com, wie Darstellungen aus dem Voynich-Manuskript mit zeitgenössischen Vorstellungen des weiblichen Uterus (mit sieben Kammern und Öffnungen) und sonstiger weiblicher innerer wie äußerer Anatomie übereinstimmen.

Der persische Arzt Bakr Al-Rāzī, dessen Arbeiten einen großen Einfluss auf die mittelalterliche europäische Medizin hatte, schrieb von fünf kleinen Venen, die in den Vaginen von Jungfrauen zu finden seien. Diese Venen sehen Brewer und Lewis auch in Illustrationen im Voynich-Manuskript dargestellt.Quellen: Brewer u. Lewis / Yale University Library

Der persische Arzt Bakr Al-Rāzī, dessen Arbeiten einen großen Einfluss auf die mittelalterliche europäische Medizin hatte, schrieb von fünf kleinen Venen, die in den Vaginen von Jungfrauen zu finden seien. Diese Venen sehen Brewer und Lewis auch in Illustrationen im Voynich-Manuskript dargestellt.
Quellen: Brewer u. Lewis / Yale University Library

In Darstellungen von Burgen vermuten die beiden Historiker zudem ein verdecktes Wortspiel mit der Doppelbedeutung des deutschen Wortes „Schloss“ im Sinne eines burgartigen Palastes als Symbol für die „weiblichen Genitalien“, aber auch im Sinne eines Sperr-Schlosses als Verweis auf das „weibliche Becken“. An anderer Stelle deuten Lewis und Brewer die Abbildung zweier Sonnen als Metapher die Vorstellungen von Aristoteles, dass die Sonne dem Embryo in dessen früher Entwicklungsphase natürliche Wärme spenden würde.

„Obwohl viele Merkmale der Illustration des Manuskripts noch nicht verstanden sind, ist unser Vorschlag eine genaue Untersuchung wert. Wir hoffen, dass zukünftige Forschung zum Manuskript dieses durch eine ähnliche Linse betrachten wird. Vielleicht finden wir mit genügend Hinweisen einen Weg, um diesen schwer fassbaren Text endlich zu entschlüsseln“, so Brewer abschließend.

Angesichts der zahlreichen früheren Deutungen des Voynich-Mansukritpts und der teilweise doch recht freien Interpretationen der Darstellungen durch Lewis und Brewer ist zu erwarten, dass die Voynich-Community auch die Ausführungen von Brewer und Lewis nur schwerlich als „Lösung des Voynich-Rätsels“ anerkennen wird.

– Den vollständigen Artikel von Keagan Brewer auf TheConversation.com finden Sie HIER

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Recherchequelle: TheConversation.com, Social History of Medicine

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