Moskau (Russland) – Krähen und Raben sind für ihre hohe Intelligenz, ihre spielerische Natur und starke Persönlichkeiten bekannt. Sie zeigen komplexes kognitives Verhalten, können beispielsweise trauern und Groll hegen, können Mathe und Statistik und akrobatische Kunststücke aufführen. Eine neue Studie zeigt nun zudem, dass die Rabenvögel auch „mentale Muster und Vorlagen“ nutzen können, um beispielsweise Aufgaben zu erledigen und Werkzeuge herzustellen.
Wie das Team um Anna A. Smirnova von der Lomonossow-Universität Moskau und die vergleichende Psychologin Sarah Jelbert von der University of Bristol aktuell im Fachjournal „Animal Cognition“ (DOI: 10.1007/s10071-024-01874-6) berichten, konnten sie in Experimenten zeigen, dass Nebelkrähen (Corvus cornix) eine kognitive Fähigkeit besitzen, die bislang als für den Menschen einzigartig galt: Sie können sich die Form, Farbe und Größe eines Objekts merken, nachdem es entfernt wurde – in diesem Fall ein Stück farbiges Papier – und es (wenn auch nur ansatzweise) nachbilden.
Mentale Muster
Laut den Verhaltensforscherinnen und -forschern erfordert diese Fähigkeit die Bildung sogenannter „mentaler Vorlagen/Muster“. Eine solchen „mental template“ ist also ein inneres Bild eines Objekts, auch wenn es nicht mehr vorhanden und damit nicht mehr sichtbar ist. Diese Vorlagen ermöglichen es den Tieren, Werkzeuge herzustellen, die beim Nahrungserwerb oder beim Nestbau helfen, was ihre Überlebenschancen erhöht. Sie könnten auch das Lernen von Werkzeugherstellung von Artgenossen fördern und damit die bei Rabenvögeln bereits zuvor beobachtete „kumulative Kultur“ unterstützen, die bei nichtmenschlichen Tieren selten ist.
Seit 2002 suchen Forschende nach Belegen und Beweisen dafür, dass verschiedene Rabenvögel und andere Vogelarten solche mentalen Vorlagen erstellen können. In einem bekannten Experiment bog beispielsweise die Neukaledonische Krähe „Betty“ spontan ein Stück Draht zu einem Haken, um eine schwer erreichbare Belohnung zu erlangen. Forscher schlussfolgerten, dass Betty eine mentale Vorlage des Hakens erstellt und nachgebildet hatte. Auch Goffin-Kakadus zeigten eine ähnliche Fähigkeit, spontan Werkzeuge zu erstellen, was auf vergleichbare geistige Fähigkeiten hinweist.
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Die neuen Erkenntnisse über die Nebelkrähe legen nun nahe, dass die Fähigkeit, auf diese Weise zu lernen, weiter verbreitet ist als bisher angenommen. Die Autorinnen und Autoren erklären, dass die Erstellung und Nutzung mentaler Vorlagen eine Fähigkeit sein könnte, die sich im Vorfahren aller Rabenvögel, dem „Corvida“-Zweig der Singvögel, entwickelt hat. Diese Fähigkeit könnte sogar noch weiter im Tierreich verbreitet sein, als bislang angenommen.
Nachahmen ohne Vorlage
In ihrer Studie trainierten Jelbert und ihre Kollegen drei Nebelkrähen – Glaz (15 Jahre alt), Rodya (4 Jahre alt) und Joe (3 Jahre alt) – darauf, Papierstücke verschiedener Größen und Farben zu erkennen. Sie setzten die Vögel mehrere Minuten lang verschiedenen „Vorlagen“-Papierstücken aus, bevor sie diese Vorlagen entfernten, und belohnten die Krähen, wenn sie passende Schnipsel in einen Schlitz fallen ließen. In einem anschließenden Experiment durften die Krähen Versionen dieser Objekte selbst herstellen und erhielten – bei Erfolg – auch dafür eine Belohnung. Die Forscher stellten fest, dass alle drei Krähen Objekte herstellten, die in Farbe und Größe den Vorlagen entsprachen, obwohl die Belohnungen zufällig vergeben wurden. Glaz, die älteste der Krähen, zeigte dabei die größte Präzision, was darauf hindeutet, dass die Fähigkeit, mentale Vorlagen zu erstellen, möglicherweise mit Erfahrung und Alter zunimmt.
Zugleich betonen die Forschenden, dass Krähen selten direkt voneinander abschauen, wie Werkzeuge hergestellt werden. Stattdessen stehlen junge Krähen oft die Werkzeuge ihrer Eltern, nutzen diese, merken sich deren Form und versuchen, sie nachzubilden.
Es bleibt umstritten, was genau den Vögeln als mentale Vorlage gilt und wie flexibel diese sind. Forschungen legen nahe, dass bereits der Vogelgesang und das Paarungsverhalten auf mentalen Vorlagen basieren könnten, was jedoch auch negative Folgen haben kann, wenn das Verhalten von der „falschen“ Art übernommen wird und dann nur noch schwer korrigierbar ist.
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Recherchequelle: University of Bristol, Animal Cognition
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