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„Der Autoverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt ist wieder normal.“ Sahen Schriftsteller das Ende der Berliner Mauer voraus?

Symbolbild: Mauerfall. Copyright: Berliner Senat / CC BY-SA 3.0
Symbolbild: Mauerfall.
Copyright: Berliner Senat / CC BY-SA 3.0

Berlin (Deutschland) – Vor dreißig Jahren fiel die Berliner Mauer. Ein Jahr früher rechnete kaum jemand in den Medien und der Politik mit der Grenzöffnung. Einige Autoren beschrieben aber lange vorher das Ende der deutschen Teilung. Zufall? Prophetie? Präkognition?

– Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Ralf Bülow.
Darin knüpft der Autor an Seinen früheren GreWi-Gastartikel von 2017 über „Literarische Vorahnungen“ auf das Olympia-Attentat von München 1972 an. Diesen finden Sie HIER

Erst kam das Quiz „Was bin ich?“, danach die Serie „Forellenhof“ und dann das Ereignis. Kurz nach 22 Uhr läuteten in der ARD die Kirchenglocken, und es ertönte der Choral „Nun danket alle Gott“. Die Tagesschau sagte, warum: „1. November 1976. Ganz Deutschland feiert den Beginn der Wiedervereinigung… Jubel überall – Jubel in Sachsen, Jubel am Rhein, Jubel in ganz Deutschland.“

So begann am 20. April 1966 die 75 Minuten lange NDR-Produktion „Der deutsche Bund“. Autor Rüdiger Altmann war stellvertretender Leiter des Deutschen Industrie- und Handelstages und Publizist. Seine „formierte Gesellschaft“  – heute würde man „programmierte Gesellschaft“ sagen – hatte Bundeskanzler Erhard 1965 als Wahlkampfformel geschätzt. Die Grundidee ging auf Peter Merseburger zurück, Politik-Redakteur im dritten NDR-Kanal, später Moderator des Magazins „Panorama“.

Die Premiere der TV-Sendung erfolgte schon am 1. März 1966 in den Dritten Programmen von NDR und WDR. Die Fake-Doku passte in die Zeit, denn fünf Jahre nach Bau der Berliner Mauer erschien fast monatlich eine neue Denkschrift zur Lösung der deutschen Frage. Sie basierten meist auf einem Staatenbund BRD-DDR, der es beiden erlauben sollte, eine Weile an ihren politischen Grundlagen festzuhalten.

Viel Gehirnschmalz wurde dem Problem gewidmet, die Union einzuleiten. Rüdiger Altmann startete seine Geschichte fünf Monate nach der Sendung.

Am 15. September 1966 wird die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP zu einem Allparteienkabinett. Ludwig Erhard, Kanzler seit 1963, bleibt es, Willy Brandt wird Innenminister und Helmut Schmidt Vizekanzler anstelle von FDP-Chef Erich Mende. Außenminister ist nach wie vor Gerhard Schröder – nicht der Ex-Kanzler, sondern sein Namensvetter aus der CDU.

Ende 1966 reist Erhard in die USA, im Frühjahr 1967 kommt Präsident Lyndon B. Johnson. Er garantiert die Grenzen von Polen und der Tschechoslowakei und bietet Wirtschaftshilfe an. Im Januar 1968 fliegen polnische Politiker zu Gesprächen in die USA.  Einen Monat später schlägt Bonn einen Bund aus BRD und DDR vor. Deren Eigenstaatlichkeit bleibt bestehen, gesamtdeutsche Wahlen finden noch nicht statt. Aus je 25 Abgeordneten von Bundestag und Volkskammer soll aber eine Kommission entstehen, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit berät.

Am 15. September 1968 tritt sie im Berliner Reichstag zusammen, und Unterausschüsse für Verkehr, Handel, Wissenschaft und Jugendaustausch gehen ans Werk. In den frühen 1970ern tragen Bautrupps der Volksarmee die Berliner Mauer ab. Das Drehbuch meint: „Berlin atmet auf. Die Mauer, die am 13. August 1961 die Bevölkerung der alten Reichshauptstadt voneinander trennte, verschwindet. Der Autoverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt ist wieder normal. Zwar gibt es noch Kontrollen, aber sie behindern die Bevölkerung kaum.“

DDR-Boss Ulbricht wird durch Erich Honecker ersetzt, der eine Demokratisierung der BRD im Sinne eines sozialistischen Fortschritts verlangt. Damit kommt er nicht weit, denn in der SED hat sich eine gesamtdeutsche Fraktion etabliert: Neuer Mann an der DDR-Spitze wird Willy Stoph. Am 18. März 1975 wählt die paritätische Kommission einen Hamburger Schriftsteller – ist Walter Jens gemeint? – zum Präsidenten des Deutschen Bundes aus BRD und DDR.

Befugnisse hat er keine, es beginnt jedoch eine Viererkonferenz der USA, der Sowjetunion und von England und Frankreich. Sie beschließt am 1. November 1976, der Wiedervereinigung Deutschlands freien Lauf zu lassen. Jubel, Begeisterung, Glockengeläut, Choräle. Bonn und Ostberlin erklären den 1. November zum Feiertag, Details der Fusion sollen später folgen. Sendeschluss.

Die Realität überholte leider schnell die optimistische Vision. Im März 1966 verschickte die Bundesregierung eine „Friedensnote“, die der Sowjetunion, Polen und der CSSR Gewaltverzicht anbot; die Resonanz war minimal. Im Juni 1966 platzte der Redneraustausch, der Besuche west- und ostdeutscher Politikern im jeweils anderen Deutschland vorsah.

Walter Ulbricht sprach 1966 und 1967 ab und zu eine Konföderation an, doch forderte er so gewaltige Vorleistungen, dass eine Realisierung undenkbar war. In der Silvesteransprache 1966 schloss er „eine Vereinigung zwischen der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und einer von Monopolkapital beherrschten westdeutschen Bundesrepublik“ aus.

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Eine Prophetie der NDR-Sendung erfüllte sich: Ende 1966 hatte die BRD keine Allparteienregierung, aber eine Große Koalition mit einem Außenminister Willy Brandt. Auch bei der Ablösung Ulbrichts durch Honecker lag „Der deutsche Bund“ richtig. Der letzte Satz des Drehbuchs verschob sich allerdings vom 1. November 1976 bis zum 3. Oktober 1990: „Und nun, meine verehrten Damen und Herren, beginnt die Wiedervereinigung Deutschlands.“

Wie visionär waren Peter Merseburger und Rüdiger Altmann? Könnte man von echter Präkognition sprechen oder war alles nur Zufall? Ehe wir zur Antwort kommen, wollen wir drei Romane betrachten, die 1976, 1980 und 1985 erschienen und mit dem Mauerfall in Berlin enden, dazu ein politisches Szenario.

Das erste Buch, „Der Schacht“ (1976), stammt von Hans Blickensdörfer, geboren 1923 in Pforzheim, verstorben 1997 in Plochingen. Nach dem Kriegsdienst war er Sportjournalist, ab 1963 schrieb er außerdem Sachbücher und Romane. „Der Schacht“ spielt im Jahr 2001, in dem es die DDR also noch gibt. Die Handlung dreht sich um einen Tunnel aus der Nazizeit, der von West- nach Ostberlin führt. Viel passiert nicht. Bundeskanzler Vollmann und DDR-Parteichef Gratwohl treffen sich 18 Seiten vor Schluss in besagtem Tunnel, reden miteinander, und eine Seite vor Schluss heißt es: „Noch ehe die Werktätigen sich zur Feier des 1. Mai rüsteten, begann der Abbruch der Berliner Mauer.“ Und dann ist das Buch aus.

Da bringt „Operation Heimkehr“ (1980, dt. 1982) mehr. Autor Masanori Nakamura ist Japaner und Jahrgang 1929; er könnte noch leben. Er war Repräsentant der Japan Air Lines in Hamburg, der Roman verrät seine Kenntnis der Bonner Republik. „Operation Heimkehr“ spielt 1980 oder 1981, Ronald Reagan ist Präsident, die UdSSR ist die Supermacht USA leid und bricht eine Weltkrise vom Zaun. Die Rote Armee dringt in West-Berlin ein und besetzt die Hauptquartiere der alliierten Schutzmächte. US-Präsident Reagan tut nichts, und die Sowjets ziehen wieder ab.
Parteichef Erich Honecker fährt einen eigenen Kurs, und es kommt zum Wunder von Berlin. Die DDR-Grenzpolizei trägt die Mauer ab, Schaulustige versammeln sich und zögern. „Die Beamten auf der östlichen Seite mussten erst einladende Gesten machen, bevor es die ersten Ostberliner wagten, wieder Westberliner Boden zu betreten.“ Dann aber fallen sich fremde Menschen schluchzend in die Arme. Die beiden Berlins erhalten eine gemeinsame Verwaltung. BRD und DDR bleiben eigenständig, aber mit Option auf Wiedervereinigung.

Unser dritter Autor, Thomas R. P. Mielke, wurde 1940 in Detmold geboren und kam als Kind in die DDR. Er verließ sie mit fünfzehn. Später war er einige Jahre Berufssoldat und anschließend in der Werbe- und PR-Branche tätig. Daneben schrieb er viel Science-Fiction und historische Romane; für Details bitte seine Wikipedia-Seite aufrufen. Mielkes Roman „Der Tag an dem die Mauer fiel“ (1985) spielt 1987, der Tag, an dem sie fällt, ist Pfingsten. Es passiert fast von selbst im Rahmen eines Filmprojekts und mit Hilfe der NSA. Und dann gilt: „In den Kneipen und Straßencafés in Ost und West feierten Menschen miteinander, die sich noch wenige Stunden zuvor nie an einen Tisch gesetzt hätten.“ That’s all.

Für die drei Romane bleibt eigentlich nur das Prädikat „Weit weit hergeholt“ und fürs Fernsehspiel ein „Blauäugig“. Eine lobende Erwähnung verdient Masanori Nakamura für die menschlichen Emotionen.

Dass die vier Autoren ein Ende der Mauer beschrieben, ist kein Beweis für Präkognition. Die Plots sind zu wirr, und das Drama brachte 1966 nichts Neues. Und schon Nostradamus dichtete: „Vor dem Krieg [gegen der Terror? R.B.] fällt die große Mauer.“ (2. Centurie, 57. Vers)

Man könnte alle Propheten für tot erklären, gäbe es nicht Ithiel de Sola Pool (1917-1984). Der Sozialforscher vom Massachusetts Institute of Technology verfasste 1967 einen Aufsatz für die US-Zeitschrift „Daedalus“; der Titel lautete auf Deutsch „Das Internationale System in den kommenden fünfzig Jahren“. Der Text war ein Szenario der künftigen Weltpolitik, wie es damals die Futurologen schätzten. Er stand im August 1968 übersetzt in der Zeitschrift „Kursbuch“. Die war links und warnte die Leser vor der „Zukunft der Konterrevolution“. Das war sie:

„Um 1980 wird eine größere politische Krise in der UdSSR ausbrechen. […] Obwohl es nicht ganz bis zur Revolution kommt, ist das Ergebnis dieser Unruhen die tatsächliche Abschaffung der Kommunistischen Partei, oder aber ihre Zersplitterung in mehrere Einzelorganisationen, die Aufhebung der Kolchosen etc. Während dieser Ereignisse verliert die Sowjetunion endgültig jeglichen Einfluß in Ost-Europa. Der Versuch einer Vereinigung von Ost- und Westdeutschland bleibt vorerst ohne Ergebnis; er verhindert jedoch das Ausbrechen der Revolution in der UdSSR. Letzten Endes führt der diplomatische Druck seitens West-Europas und der USA zur deutschen Wiedervereinigung […] Es wird jetzt allgemein erkannt, daß der Kommunismus zum Sterben verurteilt ist…“

Die übrigen Passagen von Pools Aufsatz schauen nicht so genau voraus, die obige tut es umso treffender. Präkognition in der Politik ist also möglich und real, vielleicht nicht beim Mauerfall, aber bei der Wiedervereinigung, und das ist ja auch schön.

Quellen
– Rüdiger Altmann
, „Der deutsche Bund. Political fiction“, in: Theo Sommer (Hrsg.), „Denken an Deutschland. Zum Problem der Wiedervereinigung – Ansichten und Einsichten“, Nannen-Verlag, Hamburg 1966 (S. 185-195)
– Hans Blickensdörfer, „Der Schacht“, C. BertelsmannVerlag GmbH, München 1976
– Masanori Nakamura, „Operation Heimkehr“, Droemer Knaur, München 1982
– Thomas R. P. Mielke, „Der Tag an dem die Mauer brach – Polit-Thriller“, Bastei-Verlag, Bergisch Gladbach 1985
– Ithiel de Sola Pool, „Das Internationale System in den kommenden fünfzig Jahren“, in: „Kursbuch 14 – Kritik der Zukunft“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1968 (S. 18-25)

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Literarische Vorahnung? Heinz G. Konsalik und das Olympia-Attentat vom 5. September 1972 5. September 2017

Über den Autor
Ralf Bülow, geboren 1953, studierte Informatik, Mathematik und Philosophie an der Universität Bonn. Er ist Diplom-Informatiker und promovierte in mathematischer Logik. Von 2009 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kultur- und Wissenschafts-kommunikation der FH Kiel. Während der 1980er Jahre arbeitete Ralf Bülow am Deutschen Museum und dessen Forschungsinstitut in München, zu Anfang der 1990er Jahre als Wissenschafts- und Technik-Journalist. Seit 1996 war er an zahlreichen Ausstellungen zu den Themen Computer, Weltraumfahrt, Astronomie und Physik beteiligt, darunter an „Einstein begreifen“ des Technoseum Mannheim. 2014 wirkte er bei einem Projekt für ein Spionage- und Geheimdienstmuseum in Berlin mit.

© Ralf Bülow

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Andreas Müller
Autor und Publizist
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