Schwer fassbare Minderheiten: Studie zu nicht-binären Geschlechterrollen im prähistorischen Europa
Göttingen (Deutschland) – In der allgemeinen Wahrnehmung erscheint die aktuelle und von beiden Seiten oft hitzig geführte Diskussion ums sog. Gendern und die geschlechtliche Identitätswahrnehmung als moderne Erscheinung. Tatsächlich scheint es jedoch schon sehr viel früher Menschen gegeben zu haben, deren Wahrnehmung durch ihre Gemeinschaften und Geschlechterrolle offenbar nicht mit ihrem angeborenen Geschlecht übereinstimmte und dies dennoch auch in prähistorischen Gesellschaften anerkannt und respektiert wurde.
„In der Vergangenheit hing das biologische Geschlecht eindeutig mit der Rolle in der Gesellschaft zusammen, Männlichkeit und Weiblichkeit waren scharf voneinander abgegrenzt.“ Diese Vorstellung ist heute weit verbreitet, erläutern die Mitglieder des Forschungsteams um Archäologinnen und Archäologen der Universität Göttingen. „Aber war die Vorstellung von Geschlecht im prähistorischen Europa wirklich binär?“ Mit dieser Fragestellung wurden neolithische und bronzezeitliche Gräber (etwa 5500 v. Chr. bis 1200 v. Chr.) auf Hinweise zum biologischen und sozialen Geschlecht untersucht. Das Ergebnis: „Die gesellschaftliche Rolle prähistorischer Individuen wurden mehrheitlich – aber nicht ausschließlich – durch ihr biologisches Geschlecht bestimmt. Es zeigte sich aber auch, dass die üblichen Methoden fehleranfällig sind.“
Wie das Team um Dr. Eleonore Pape und Dr. Nicola Ialongo aktuell im Fachjournal „Cambridge Archaeological Journal“ (DOI: 10.1017/S0959774323000082) erläutern, gehen viele Menschen davon aus, dass die beiden biologischen Geschlechter zwei soziale Geschlechter hervorbringen. „Betrachtet man jedoch das biologische und das soziale Geschlecht getrennt, gibt es mindestens vier mögliche Kombinationen.“ Auch für die Archäologie stelle die Untersuchung von Geschlechternormen und -identitäten in prähistorischen Gesellschaften eine Herausforderung dar, da üblicherweise das biologische Geschlecht anhand der menschlichen Knochen ermittelt wird und auf das soziale Geschlecht einer Person anhand von Gegenständen in ihrer Grabausstattung geschlossen wird. „Dabei gilt in sehr vereinfachter Form: Waffen für Männer, Schmuck für Frauen.“
Hintergrund
In ihrer Studie beschreiben Pape und Ialongo beispielsweise die Gräber zweier biologischer Männer innerhalb des linearbandkeramischen Gräberfeldes nahe Aiterhofen-Ödmühle im heutigen Bayern, der mit einem Kopfschmuck aus Schneckenschalen und weiteren Gegenständen beigesetzt wurde (s. Titelabbildung o.), die im damaligen Kontext eindeutig weiblich besetzt waren. In anderen Fällen finden sich auch in patriarchischen Gemeinschaften biologische Frauengräber, denen eindeutig männliche Grabbeigaben wie Äxte, Jagdwerkzeuge, Wildschweinzähne oder Feuersteine mit ins Grab gegeben wurden.
Für ihre Studie sammelten und analysierten die Forschenden bestehende Daten zum biologischen und sozialen Geschlecht von über 1000 Individuen, die in neolithischen und bronzezeitlichen Grabstätten in Deutschland, Österreich und Italien bestattet wurden. „Der Datensatz deckt fast 4000 Jahre unserer fernen Vergangenheit ab.“ Die Forschenden ermittelten, wie oft die Daten zum biologischen und sozialen Geschlecht übereinstimmten und wie oft nicht.
Wie sich zeigte, stimmten in 26,5 Prozent der untersuchten Fälle das biologische und soziale Geschlecht überein, während bei 2,9 Prozent der Individuen die Daten auf eine nicht binäre Norm hindeuten. „Die Zahlen sagen uns, dass wir nicht-binäre Personen historisch gesehen nicht als Ausnahmen von einer Regel betrachten können“, erklärt Dr. Eleonore Pape. „Wir sollten sie eher als Minderheiten begreifen, die unter Umständen formal anerkannt, geschützt und sogar verehrt werden konnten.“
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Allerdings sei dies nur eine der möglichen Interpretationen, fügt Dr. Nicola Ialongo vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen hinzu: „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir die tatsächliche Größenordnung noch nicht abschätzen.“ Tatsächlich mussten 70,6 Prozent der Fälle aus der Untersuchung ausgeschlossen werden, da entweder das biologische und/oder das gesellschaftliche Geschlecht bestimmt werden konnte, – es also an entsprechend aussagekräftigen Funden fehlte. „Betrachtet man die Gruppe jener Fälle, in denen die Geschlechter bestimmt werden konnten für sich alleine, so zeichnet sich ein Muster mehrheitlich klassisch binärer Übereinstimmung von 90 Prozent zwischen biologischem und gesellschaftlichem Geschlecht ab.“ Das bedeutet aber auch, das in einem von 10 Fällen diese Übereinstimmung auch in prähistorischen Gesellschaften Mitteleuropas nicht vorlag.
Zudem müsse man auch den Bestätigungsfehler berücksichtigen: „Wir Menschen neigen dazu, das zu finden, was wir finden wollen“, so Ialongo abschließend. Zukünftig sollen biomolekulare Analysen, zum Beispiel an der DNA und an Proteinen im Zahnschmelz zusätzliche Daten liefern.
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Recherchequelle: Universität Göttingen
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