Freiburg im Breisgau (Deutschland) – Mit seiner im März 2018 erschienenen Monographie „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“ legte der Tübinger Amerikanist und Vice-Chair eines europäischen Forschungsnetzwerks zur Erforschung von Verschwörungstheorien (COMPACT – Comparative Analysis of Conspiracy Theories), Prof. Dr. Michael Butter, ein Werk vor, dass fast durchgängig positiv rezipiert worden ist. Nun dokumentieren die Soziologen Andreas Anton und Alan Schink in einer Rezension jedoch zahlreiche Widersprüche in Butters Werk und widerlegen dessen zentrale Thesen.
Butters Werk galt und gilt nicht wenigen Wissenschaftlern, Journalisten und Medienschaffenden als eines der modernen Standardwerke über Verschwörungstheorien überhaupt – liefert es doch einen fundierten Überblick zur Geschichte, Charakteristika und Gefahren dieser mittlerweile stark stigmatisierten Narativform. Die Soziologen Dr. Andreas Anton (der selbst Autor des Sachbuches „Unwirkliche Wirklichkeiten: Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien“ ist) und Dr. Alan Schink (…bei Veröffentlichung d. Review M.A.) kommen in ihrer Besprechung des Buches „Verschwörungstheorien zwischen Schein und Sein“ in der jüngsten Ausgabe der „Zeitschrift für Anomalistik“ (ZfA, Band 19 (2019), S. 471-486)) allerdings zu gänzlich anderen Ergebnissen als Butter und belegen in dem Werk vorhandene inkonsistente Argumentation und eine starke Selektivität bei der Literaturauswahl der zitierten Studien.
In ihrer Review problematisieren die beiden Autoren „eine Reihe eklatanter Schwächen“ des Buches, deren gravierendste sie in Butters „äußerst enger Definition von Verschwörungstheorien“ (ebd.) sehen. Laut dieser sei „es ein wesentliches Merkmal verschwörungstheoretischer Deutungen, dass sie immer falsch sind“. Durch diese enge Definition riskiere Butter aber, dass dadurch auch denjenigen Teilen verschwörungstheoretischer Spekulationen keine Beachtung geschenkt werde, „denen nicht pauschal der Wahrheitsgehalt abgesprochen werden kann, da sie etwa zumindest zum Teil auf akzeptiertes Wissen rekurrieren oder sogar tatsächlich Belege für die vermutete Verschwörung liefern können“.
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Butters Festlegung auf die Definition von Verschwörungstheorien als Deutungsformen, die „immer falsch seien“, führe sogar zu „offenen Widersprüchen“: Behauptet Butter in „Nichts ist, wie es scheint“ zunächst, dass er es „für ein weiteres wichtiges Charakteristikum von Verschwörungstheorien halte, dass diese falsch sind“ (Butter, a.a.O., S. 37), so notiert er wenig später in Bezug auf sogenannte Ereignisverschwörungstheorien, dass es „tatsächlich […] bei solchen Verschwörungstheorien noch eher vorstellbar [sei], dass sie sich einmal als wahr erweisen“ (a.a.O., S. 38). „Wie passt das zusammen?“ fragen Anton und Schink und haken kritisch nach.
Butters bevorzugte Definition offenbare letztlich auch eine Tautologie (also Aussagen, die immer wahr sind, unabhängig davon, welchen Wahrheitswert die Bestandteile dieser Aussagen aufweisen): „Da Verschwörungstheorien immer falsch seien, habe sich auch ‚noch nie eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt’. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass keiner einzigen jemals aufgedeckten realen Verschwörung eine Verschwörungstheorie vorausgegangen ist.“
Eng verzahnt mit dieser Behauptung sei denn auch Butters These zu Watergate: „Ein anderes Beispiel, auf das gerne verwiesen wird, um zu zeigen, dass es angeblich immer wieder Verschwörungstheorien gibt, die sich im Nachhinein als wahr herausstellen, ist die Watergate-Affäre. Doch bevor es hier zu den ersten Verhaftungen kam, gab es keinerlei Verdächtigungen, sprich: Theorien, die sich gegen Nixon oder seine Mitarbeiter richteten.“. Beide Thesen – die Behauptung, noch nie habe sich eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt sowie die Aussage, gerade die Watergate-Affäre sei eben kein richtiges Beispiel für eine Verschwörungstheorie, die sich später als wahr herausgestellt habe – werden nicht nur von Butter vertreten, sondern spätestens seit seinem Buch auch von anderen Autoren aufgegriffen. Anton und Schink hingegen wiederlegen diese Aussagen als unhinterfragte Dogmen und legen nachvollziehbar dar, dass man es im Fall Watergate eben doch „mit vorerst nicht eindeutig bewiesenen Behauptungen über eine Verschwörung zu tun (gehabt habe), die sich dann aber (größtenteils) als wahr herausstellten“.
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Symptomatisch sei auch Butters Auslassung wichtiger Sekundärliteratur, die seiner zuvor kritisierten Begriffsdefinition von Verschwörungstheorien zuwiderlaufen könnte. So rezipiere Butter etwa einen Aufsatz des Forschers Geoffrey Cubitt zum Thema sehr einseitig, andere Autoren, die „seiner Perspektive Widersprechendes“ zur Verschwörungstheorieforschung beigetragen hätten, würde Butter dagegen sogar völlig ignorieren. Explizit benennen die Wissenschaftler hierzu ganz konkret zahlreiche Werke.
„Der viel fundamentalere Punkt ist hier, dass die vielfach gelobte Studie von Butter nur so argumentieren kann, wie sie es tut, weil der Autor wichtige wissenschaftliche Literatur zum Thema ausblendet. Man kann hier getrost von einem Bias sprechen“, resümieren die beiden Forscher in Bezug auf Butters selektive Quellenauswahl.
Eine defizitäre Argumentation sehen die Autoren auch bei Butters Kritik an dem umstrittenen Schweizer Historiker Daniele Ganser. Zwar schließen sich Anton und Schink Butters inhaltlicher Kritik an Ganser und dessen Thesen an und verweisen selbst darauf, dass Ganser „bisweilen in der Tat fragwürdige rhetorische Mittel“ verwende, „um seinem Publikum bestimmte Deutungen nahezulegen“. Dennoch lasse auch Butter – ähnlich wie Ganser – oft entscheidende Fakten „unter den Tisch fallen“, die der eigenen Position widersprechen könnten.
Abschließend kommen die beiden Verschwörungstheorieforscher zu dem vernichtenden Urteil, Butters Werk sei wohl „mit heißer Nadel gestrickt“ und lasse es an „elementare[r] Begriffsarbeit, Tiefenschärfe und logische[r] Stringenz“ fehlen.
– Die gesamte Rezension finden Sie HIER
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Quelle: Zeitschrift für Anomalistik
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