Studie zeigt: Überraschungsmomente können Erinnerungen verfälschen
Durham (USA) – Erinnerungen sind nicht objektiv und noch weniger frei von persönlichen Ausschmückungen und subjektiven Eindrücken – diese Erkenntnis ist nicht neu. Auch und gerade im Umgang mit Augenzeugen grenzwissenschaftlicher Phänomene ist dieses Problem bekannt. Eine aktuelle Studie aus den USA zeigt nun, wie gerade Unerwartetes Erinnerungen sowohl stärken als auch verfälschen kann. Nicht nur im Umgang mit Augenzeugen anomalistischer Effekte ist dies eine wichtige Beobachtung.
„Die meisten Menschen unterliegen der fälschlichen Vorstellung, dass unser Erinnerungsvermögen wie eine Videokamera funktioniert. Das wir also etwas Erleben, es aufnehmen und genau so auch wieder abspielen können“, erläutert die Psychologie-Doktorandin Allie Sinclair von der Duke University. „Aber ganz so einfach ist es nicht und noch weniger sind unserer Erinnerungen so zuverlässig, wie viele das glauben.“
Wenn wir uns an etwas erinnern, so rekonstruiert unser Gehirn diese vergangene Erfahrung und manchmal werden unsere Erinnerungen innerhalb dieses Vorganges auch bearbeitet – nachbearbeitet und dabei verändert. „Dabei handelt es sich bei diesem Vorgang eigentlich und meist um etwas Gutes“, erläutert die Wissenschaftlerin und führt dazu weiter aus: „Dieser Vorgang hilft uns etwa dabei, aus Fehlern zu lernen und auch neue Informationen den alten Erfahrungen hinzuzufügen. Zugleich eröffnet diese Fähigkeit der Nachbearbeitung von Erinnerungen aber auch die Möglichkeit, dass dabei auch falsche Erinnerungen erzeugt werden.“
Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der kanadischen University of Toronto hat Sinclair die Ergebnisse ihrer aktuellen Untersuchungen im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (DOI: 10.1073/pnas.2117625118) veröffentlicht.
Für ihre Studien haben die Forschenden einer Gruppe von zwei Dutzend Studienteilnehmern zunächst 70 kurze Videoclips vorgespielt. Am darauffolgenden Tag wurde den Teilnehmern innerhalb einer MRT-Röhre diese Videos erneut gezeigt, dabei ihre Hirnaktivitätsmuster aufgezeichnet. Allerdings wurden die Hälfte der Videos nun plötzlich und ohne Vorankündigung, hinzu an einer für die Filmerzählung kritischen Stelle kurz unterbrochen – etwa just in jenem Moment, kurz bevor ein Baseball-Spieler den ankommenden Ball trifft.
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Wie die MRT-Aufnahmen zeigen, aktivierten diese Überraschungsmomente das gesamte Gehirn und einige wichtige neuromodulatorische Systeme, darunter besonders die Ausschüttung von Acetylcholin, Dopamin und Noradrenalin. „Wenn etwas Unerwartetes geschieht, kommt es zur Ausschüttung dieser Neurotransmitter und man erinnert sich an eben diesen Moment besonders stark“, erläutert Sinclair.
Am dritten Tag wurden die Teilnehmer dann zu den gesehenen Videos befragt und gebeten, sich an so viele Details wie möglich von möglichst vielen der Videos zu erinnern. „Einige der Teilnehmer waren wirklich erstaunlich gut darin, sich sehr detailliert und akkurat zu erinnern. Andere wiederum hatten eine furchtbar große Menge falscher Erinnerungen.”
Anhand der MRT-Aufnahmen stellten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fest, dass die gezielt erzeugten Überraschungsmomente die Rolle des Hippocampus veränderten – also genau jener Hirnregion, die für das Erzeugen, Abrufen und die Verarbeitung von Erinnerungen verantwortlich ist: „Nach Videos ohne eine überraschende Unterbrechung, schien der Hippocampus in einer Art Erhaltungs-Modus zu verweilen, innerhalb dessen Erinnerungen verstärkt werden“, berichtet die Psychologin. „Nach jenen Videos, die überraschend unterbrochen wurden, wurde der Hippocampus allerdings in eine Art Aktualisierungs-Modus versetzt, in dem Erinnerungen be- bzw. überarbeitet wurden. Der Überraschungseffekt unterbrach die Stabilität der Hirnaktivitätsmuster im Hippocampus, was eine Veränderung im aktuellen Zustand anzeigt. Je mehr dieser Störungen in den Hirnmustern erzeugt wurden, desto mehr falsche Erinnerungen entstanden und die Wahrscheinlichkeit stieg, dass die Teilnehmer falsche Erinnerungen an die überraschend unterbrochenen Videos hatten.“
Allerdings war das Überschreiben der ursprünglichen Erinnerungen selbst nicht völlig wahllos: „Es schien vor allem zwischen den semantisch miteinander verbundenen Videos – etwa Videos mit Sport-Inhalten – abzulaufen. (…) Neue und damit falsche Informationsteile kamen immer dann hinzu, wenn Videoinhalte einander glichen. So gab es immer wieder Beispiele, in denen Teilnehmer Inhaltselemente eines Videos nutzen und diese einem anderen (meist thematisch verwandten) Video zuordneten.“
Für die Forschenden werfen die Studienergebnisse ein neues Licht darauf, wie sich beispielsweise Zeugen von Straftagen etwa an Vorgänge und Gesichter erinnern. „Solchen Zeugen also Fotos von Dingen zu zeigen, die sie nicht selbst gesehen haben, ist also vermutlich keine gute Idee.“
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Recherchequelle: Duke University
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