Würzburg (Deutschland) – Ging man lange Zeit davon aus, dass Venus-Fliegenfallen lediglich reflexartig auf die Berührung ihrer Sinneshaare durch ihre Opfer reagierten, zeigten Würzburger Biologen 2016, dass die fleischfressenden Pflanzen nicht nur ihre Ernährung sorgfältig planen, sondern auch zählen können, wie oft ein Insekt sie berührt, und daraus den Aufwand für die Verdauung berechnen. Selbst eine Form von Gedächtnis sprechen die Wissenschaftler der Venusfliegenfalle zu. Jetzt zeigen die Forscher in einer neuen Studie, wie das Kurzzeitgedächtnis und die Zählweise der Pflanzen funktionieren.
Wie das Team um den Biophysiker Rainer Hedrich, Professor an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg bereits 2016 berichtete, kann die fleischfressende Venus-Fliegenfalle (Dionaea muscipula) bis fünf zählen (…GreWi berichtete).
Im Fachjournal „Nature Plants“ (DOI: 10.1038/s41477-020-00773-1) berichten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun aktuell gemeinsam mit einem japanischen Forschungsteam, geleitet vom Entwicklungsbiologen Professor Mitsuyasu Hasebe von der Universität Okazaki, von ihren aktuellen Untersuchungsergebnissen.
„Berührt ein Beutetier eines der Sinneshaare auf der inneren Fallenseite von Dionaea, wird der mechanische Reiz in ein elektrisches Signal umgewandelt. Dieses sogenannte Aktionspotential breitet sich über die gesamte Falle aus. Als Reaktion darauf passiert erst einmal nichts. Wenn aber innerhalb von 30 Sekunden ein zweites Aktionspotential die Falle elektrisch erregt, schnappt sie zu. Lässt dagegen der zweite Reiz länger auf sich warten, wird das erste Aktionspotential aus dem Kurzzeitgedächtnis der Venus-Fliegenfalle gelöscht.“
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Schon 2018 diskutierten Rainer Hedrich und der Göttinger Nobelpreisträger und Neurobiophysiker Erwin Neher in einem Übersichtsartikel, dass das molekulare Gedächtnis der Fliegenfalle auf einer zellulären Kalziumuhr beruhen könnte.
Um zu untersuchen, ob das Gedächtnis der Venus-Fliegenfalle für elektrische Wellen tatsächlich etwas mit der Erzeugung und Speicherung von Kalzium zu tun hat, bauten die Forschenden der Pflanze einen Kalziumsensor in Form eines gentechnisch erzeugten Proteins ein, das aufleuchtet, wenn die zelluläre Kalziumkonzentration einen kritischen Wert überschreitet. Derartige Kalziumsensoren wurden bei Tieren und Pflanzen bereits erfolgreich eingesetzt, um Kalziumsignale zu erforschen.
Nachdem Hasebe und Hedrich im Juni 2020 das Genom der Venus-Fliegenfalle und zweier naher Verwandter entschlüsselt hatten, gelang es ihnen, den Kalziumsensor „GCAMP“ in das Fallengewebe einzuschleusen und aus diesem Gewebe funktionsfähige Venus-Fliegenfallen mit eingebauter Kalziumuhr zu regenerieren.
Die Experimente mit den auf diese Weise sensorbestückten Pflanzen zeigten: „Wird ein Sinneshaar berührt, erhöht sich blitzartig der Kalziumspiegel in den Zellen im Fuß des Sinneshaars und breitet sich als Welle über die gesamte Falle aus“, berichten die Forscher und führen dazu weiter aus: „Das passiert auf jeden einzelnen Reiz hin. Wie bei jeder Welle handelt es sich aber um eine zeitlich befristete Erscheinung: Innerhalb weniger Sekunden nach der Berührung erreicht die Kalziumwelle ihren Höhepunkt. Nach einer Minute ist sie weitestgehend abgeebbt. Wird ein Sinneshaar zweimal hintereinander gereizt, so werden getrennt voneinander zwei Aktionspotentiale auf die Reise geschickt. Das erste bringt – wie erwartet – eine Erhöhung des zellulären Kalziumspiegels mit sich. Trifft das zweite ein, bevor der Kalziumspiegel auf seinen Ruhewert gefallen ist, überlagern sich die beiden Signale. Dadurch wird eine Schwelle überschritten, was kalziumabhängige Prozesse in Gang setzt, die wiederum die Falle zuklappen lassen.“
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Die elektrische Erregung der Fallenzellen werde also in eine Konzentrationserhöhung von Kalzium übersetzt und damit das vorbeiziehende Aktionspotential quasi in den elektrisch erregten Fallenzellen gespeichert, führt Prof. Hedrich weiter aus: „Kommt ein weiteres Aktionspotential, wird sein Kalziumwert dem ersten Signal hinzugefügt. Über diese Kalziumuhr kann die Venus-Fliegenfalle die Zahl der berührungsreizbedingten Aktionspotentiale zählen.“
Weiter beobachteten die Wissenschaftler, dass die Fliegenfalle nicht schließt, wenn das zweite Aktionspotential erst eintrifft, nachdem die erste Kalziumwelle abgeebbt ist. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung stellte sich den Forschern die Frage, ob die Zahl der Aktionspotentiale für den Fallenschluss verantwortlich sind oder das Überschreiten der Kalziumschwelle?
In ihrem Labor konnten die Würzburger Wissenschaftler nun zeigen, dass nach 30 Sekunden ein zweites Aktionspotential die Falle zwar nicht schließt, aber eine kurz darauffolgende elektrische Erregung. Dieses Vorgehen wurde im Hasebe-Labor genutzt, um das Verhalten des Kalziumspiegels zu untersuchen. Das Ergebnis war eindeutig: „Mit dem verspäteten zweiten Reiz erhöhte sich der Kalziumspiegel zwar, blieb aber unterschwellig. Mit dem dritten Reiz wurde die Schwelle für das Auslösen der Falle überschritten.“
„Unsere Befunde zeigen, dass das Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit, bis zwei zu zählen, auf der Kalziumuhr beruhen“, zeigt sich Hedrich von den Ergebnissen begeistert. „Die Venus-Fliegenfalle kann aber weiterzählen. Als Reaktion auf nachfolgende Aktionspotentiale kurbelt sie die Biosynthese des Berührungshormons Jasmonat an. Ab der fünften elektrischen Erregung produziert sie Verdauungsenzyme, die die Beute zersetzen sollen, und bringt Transportproteine in Stellung, um sich die nährstoffreiche tierische Mahlzeit einzuverleiben.“
In diesem Zusammenhang stellen sich die Forschungsgruppen als nächstes der Frage, ob und wie die Kalziumuhr bis fünf zählt. Dabei ist zu klären, ob die Zellen, die auf die Aktionspotentiale Nummer eins und zwei reagieren, sich von denen unterscheiden, die erst bei Nummer drei, vier oder fünf in Aktion treten.
„Weiterhin wollen wir wissen, wie die unterschiedlichen kalziumabhängigen Prozesse nach dem Überschreiten der jeweiligen Kalziumschwelle angesteuert werden“, so Hedrich abschließend. „Unser vorrangiges Interesse gilt den Kalziumkanälen, die durch das Aktionspotential geöffnet werden, und dem Vorgang, bei dem das Kalziumsignal in das Berührungshormon Jasmonat übersetzt wird.“
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Quelle: Universität Würzburg
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