Studie zeigt, wie sich verzerrte Urteile über Gewalttaten bilden

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Symbolbild: Trauer um die am 16. Juni 2016 im Vorfeld des Brexit-Referendums ermordete Politikerin Jo Cox. Copyright: ClemRutter.net (via Wikimedia Commons) CC0

Hagen (Deutschland) – Ein internationales Psychologenteam hat sich in einer aktuellen Studie Fragen der Meinungsbildung nach und über Gewalttaten gewidmet. Das Ergebnis zeigt: Der Mensch bildet sich verzerrte Urteile über Gewalttaten, um die Integrität seiner eigenen sozialen Gruppe zu wahren.

„Die Motive für Anschläge sind vielfältig. Manche Menschen leiden an schweren seelischen Erkrankungen, die sich in Gewalttaten Bahn brechen“, erläutert die Pressemitteilung der FernUniversität Hagen und führt dazu weiter aus: „Ihre Attacken sind affektiv und keine gezielten Terrorakte. Andere indes sind religiös oder politisch motiviert und töten planvoll. Oft decken Ermittelnde erst nach Tagen auf, was die wahren Hintergründe eines Angriffs sind. Derweil haben sich in der Öffentlichkeit jedoch längst verschiedene Urteile über das vermeintliche Täterprofil herausgebildet.“

Wie tatsächlich subjektiv verzerrt diese Einschätzungen sind, beschreiben die Sozialpsychologen Dr. Birte Siem und Dr. Agostino Mazziotta gemeinsam mit Kollegen der englischen Keele University und der US-amerikanischen Northwestern University aktuell im Fachjournal „Social Psychological and Personality Science“ (DOI: 10.1177/1948550618764808).

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Neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn war den Wissenschaftlern auch die Signalwirkung der Studie wichtig: „Wir wollten anhand politischer Ereignisse zeigen, wie relevant psychologische Forschung für das Verständnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen ist“, so Mazziotta.

Während des ersten Versuchslauf der Studie, tötete ein Attentäter während des Brexit-Referendums 2016 die Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox. Neben dem Verdacht einer rein politischen Motivation gab es auch Indizien für psychische Probleme des Mörders. Die für die Studie befragten Personen sollten zunächst direkt nach der Tat selbst einem politischen Spektrum zuordnen und eine Beurteilung der Situation vornehmen.

Das Ergebnis fiel eindeutig aus: „Die meisten Brexit-Befürwortenden distanzierten sich vom Attentäter, indem sie auf seine seelische Instabilität verwiesen. (…) Je nachdem, welches Motiv ich als Erklärung für eine Tat heranziehe, bestrafe ich nicht nur den Täter, sondern auch seine Eigengruppe, die sogenannte ‚In-Group‘“, erklärt Agostino Mazziotta und erläutert weiter „Die Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen, ist Teil unserer Identität. Deswegen tendieren wir dazu, sie zu schützen.“

Dass dagegen die mit dem Täter assoziierten Brexiteers nicht an einen politisch motivierten Mord glaubten, passte demnach ebenso ins vermutete Muster: „Diejenigen, die für den Brexit waren, hätten ja sonst zugegeben, dass jemand aus ihren Reihen radikal ist.“

Übertragen auf den kurze Zeit später stattgefundenen Anschlag im bayrischen Ansbach, als im Juli 2016 ein syrischer Asylbewerber 15 Menschen mit einer Bombe verletzte und dabei selbst ums Leben kam, war es für die Forscher wichtig, ihre Befragung abzuschließen, noch bevor sich die Nachrichtenlage klären würde. Schließlich hätten objektive Informationen zum Motiv des Täters das Ergebnis verfälscht. „Wir haben den Fragebogen in einer Nachtaktion programmiert und verteilt“, erinnert sich Siem. „Es war uns ein Anliegen, nicht langsam und verzögert auf solche Ereignisse zu reagieren, sondern ‚ad hoc‘ die echten Reaktionen zu erfassen.“

Auch diese Ergebnisse fügten sich in die Argumentationslinie des Psychologen: „Analog zur Rechtsprechung straft die Öffentlichkeit Gewaltakte weniger ab, wenn sie nicht auf Kalkül, sondern Krankheit zurückgehen. Die meisten Anhängerinnen und Anhänger einer offenen Asylpolitik führten den Anschlag des jungen Moslems daher auf seelische Probleme zurück, um ihre ‚In-Group‘ zu verteidigen. Die gegnerische ‚Out-Group‘ sah in dem Angreifer hingegen sofort den islamischen Terroristen, und somit ein Beispiel für die – ihrer Meinung nach – gescheiterte Asylpolitik der Bundesregierung.“ Kurz: „Die Testpersonen versuchten eine Erklärung für die Gewalttat zu finden, die der eigenen Position dienlich ist“, so Siem.

In einer dritten Erhebung drehten die Forscher dann die Ausgangslage um, um so zu sehen was passiert, wenn die Motive klar sind. Hierzu erfanden die Psychologen mit dem Attentäter „Mister A“ eine fiktive Figur, zu der die Befragten bereits im Vorfeld Hintergrundinformationen dazu bekamen, ob dieser aus psychischer Unzurechnungsfähigkeit oder politisch motiviert handelte. „Wenn die Möglichkeit wegfällt, die eigene Gruppe dadurch zu schützen, dass man sagt, jemand ist psychisch krank, werden eben andere Gründe gesucht, die Person auszuschließen“, erklärt Mazziotta. So distanzierten amerikanische Patriotinnen und Patrioten einen geistig gesunden Terroristen unter anderem von ihrer „In-Group“, indem sie urteilten, er sei wahrscheinlich Moslem.

Für die Autoren ergeben sich aus den Studienergebnissen wichtige Anknüpfpunkte für weitere psychologische Überlegungen. Laut Siem und Mazziotta stehe nun zum Beispiel die Frage im Raum, welche Implikationen für die Medienbranche aus der verzerrten Urteilsbildung der Öffentlichkeit erwachsen. „Gerade in Zeiten von Fake-News-Debatten und Populismus kann die Psychologie hier wertvolle Erkenntnisse liefern“, stellen die Forscher abschließend fest.

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