Wiege des Menschen stand auch im Ostallgäu: Neuer Vorfahr des Menschen in Europa entdeckt
Tübingen (Deutschland) – Der aufrechte Gang und die gemeinsamen Vorfahren des Menschen und der Menschenaffen haben sich möglicherweise nicht in Afrika, sondern in Europa entwickelt. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forschungsteam anhand von neusten Funden in Süddeutschland und Ungarn anhand derer die Wissenschaftler eine bislang unbekannte Primatenart beschreiben, die vor fast zwölf Millionen Jahren unter anderem im Ostalgäu lebte.
Wie das internationale Forschungsteam um Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen gemeinsam mit Kollegen aus Bulgarien, Deutschland, Kanada und den USA aktuell im Fachjournal „Nature“ (DOI: 10.1038/s41586-019-1731-0) berichtet, sind die versteinerten Überreste der auf den Namen „Danuvius guggenmosi“ getauften Art 11,62 Millionen Jahre alt und lassen den Schluss zu, dass die Primaten sich sowohl auf zwei Beinen als auch kletternd fortbewegen konnten. „Die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, gilt als zentrales Merkmal von Menschen.“
Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Menschenaffen bereits vor rund zwölf Millionen Jahren über die Fähigkeit verfügten, auf zwei Beinen zu gehen, erläutert die Pressemitteilung der Tübinger Universität und führt dazu weiter aus: „Das wäre doppelt so alt wie bisher vermutet: Die bislang ältesten Belege für den aufrechten Gang sind sechs Millionen Jahre alt und stammen von der Insel Kreta und aus Kenia.“
Die Funde aus Süddeutschland selbst bezeichnet Böhme als „Meilenstein der Paläoanthropologie“, da sie „unsere bisherige Sichtweise auf die Evolution der großen Menschenaffen und des Menschen grundlegend in Frage stellen“.
Hintergrund
Seit Darwin wird die frühe Evolution des Menschen und seiner Cousins, der großen Menschenaffen, intensiv diskutiert. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Fähigkeit, sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Entwickelte sich diese aus einer vierbeinigen Fortbewegung ähnlich der Meerkatzen oder bei Affen, die sich hangelnd fortbewegten wie Orang-Utans, oder aus dem so genannten Knöchelgang der Schimpansen und Gorillas? Für die zahlreichen Hypothesen der vergangenen 150 Jahre fehlen oft fossile Beweise.
Quelle: Universität Tübingen
Die Fossilien von Danuvius guggenmosi wurden zwischen 2015 und 2018 in der Tongrube „Hammerschmiede“ bei Pforzen im Landkreis Ostallgäu entdeckt, in der bislang schon mehr als 15.000 fossile Wirbeltierknochen gefunden wurden, darunter von Fischen, Riesensalamandern, Schildkröten, Vögeln, Elefanten und die weltweit ältesten Pandas. Anhand der Funde rekonstruierten die Forscher den Lebensraum von Danuvius als feuchte und bewaldete Ökosysteme, wie offene Waldlanschaften, Flüsse und Tümpel mit warm-subtropischen Klima, wie es vor etwa 12 Millionen Jahren in Süddeutschland vorherrschte.
Die aktuell beschriebenen Fossilfunde konnte das Team um Böhme mindestens vier Individuen zuordnen und erläutert dazu weiter: „Das am besten erhaltene Skelett eines männlichen Danuvius verfügt über Proportionen, die einem Bonobo ähneln. Dank vollständig erhaltener Arm- und Beinknochen, Wirbeln, Finger- und Zehenknochen ließ sich rekonstruieren, wie sich Danuvius fortbewegte. Zum ersten Mal konnten wir mehrere funktionell wichtige Gelenke ‒ darunter Ellbogen, Hüfte, Knie und Sprunggelenk ‒ in einem einzigen fossilen Skelett dieses Alters untersuchen. (…) Zu unserem Erstaunen ähnelten einige Knochen mehr dem Menschen als dem Menschenaffen.“
Laut den Forscherinnen und Forschern konnte Danuvius auf zwei Beinen gehen, aber auch klettern wie ein Menschenaffe. Den Rumpf hielt er durch eine S-förmig gebogene Wirbelsäule aufrecht. Körperbau, Körperhaltung und Fortbewegungsweise sind für einen Primaten bislang einzigartig. „Danuvius kombinierte die von den hinteren Gliedmaßen dominierte Zweibeinigkeit mit dem von den vorderen Gliedmaßen dominierten Klettern“, erklärt Professor David Begun von der University of Toronto. Diese Ergebnisse lassen demnach den Schluss zu, dass sich der aufrechte Gang des Menschen in Bäumen und vor über 12 Millionen Jahren entwickelte. „Im Gegensatz zu späteren Menschen hatte Danuvius eine kräftige, abgespreizte große Zehe, mit der er große und kleine Äste sicher greifen konnte“, ergänzt Professor Nikolai Spassov, von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften.
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Anhand der Fossilfunde rekonstruierten die Wissenschaftler die Körpergröße von Danuvius guggenmosi etwa einen Meter. Die Weibchen dürften gerade mal 18 Kilogramm gewogen haben, weniger also, als heutige Menschenaffen. Männchen bewegten sich mit geschätzten 31 Kilogramm am unteren Ende des Gewichts heutiger Menschenaffen. Der Brustkorb war flach und breit und die Lendenwirbelsäule verlängert, wodurch Danuvius effektiv seinen Körperschwerpunkt über der gestreckten Hüfte und Knien halten konnte. Die Knochen lassen auf mehrere Schlüsselmerkmale menschlicher Zweibeinigkeit schließen, wie zum Beispiel eine X-Stellung der Beine.
Gestützt werden diese Ergebnisse zudem durch eine weitere, kürzlich im „Journal of Human Evolution“ (DOI: 10.1016/j.jhevol.2019.102645) veröffentlichte Studie zu einem zehn Millionen Jahre alten Beckenknochen aus Ungarn. Hierzu erläutert Begun: „Auch dieses Fossil deutet darauf hin, dass sich die europäischen Vorfahren der afrikanischen Menschenaffen und des Menschen von den heute lebenden Gorillas und Schimpansen unterschieden. Die Vorfahren, die wir mit den heute in Afrika lebenden Menschenaffen teilen, waren so einzigartig wie wir es heute sind.“ Zugleich geben ihr Körperbau wichtige Hinweise darauf, von welchem Ausgangspunkt sich afrikanische Menschenaffen und Mensch auseinander entwickelten“, so die Überzeugung der Forscher.
„Die bedeutenden Funde von fossilen Wirbeltieren, vor allem von über 12 Millionen Jahre alten Hominiden, bei Pforzen sind eine Weltsensation“ so die Forscher um Böhme abschließend. Auch Lokalpolitiker zeigen sich begeistert: „Das heutige Ostallgäu ist eine der Wiegen der Menschheit. Der Landkreis wird alles unternehmen, um die Paläontologen bei ihrer Arbeit zu unterstützen und die notwendigen Schritte zum Schutz der Fundstelle einleiten.“ Entsprechend sollen auch in Zukunft in der Tongrube Hammerschmiede, die sich in Privatbesitz befindet, Grabungen durchgeführt werden. Dies soll jeweils in enger Kooperation mit dem Eigentümer und Betreiber der Grube geschehen.
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Quelle: Universität Tübingen
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