Zufällig entdeckt: Unbekannte Lebensformen 900 Meter unter dem antarktischen Schelfeis
Cambridge (Großbritannien) – Tief unterhalb des Schelfeis der Antarktis gibt es offenbar mehr und unbekannte Lebensformen als bislang erwartet. Zu dieser Erkenntnis kommen Marinebiologen anhand einer zufällig gemachten Entdeckung bei Bohrungen in der Antarktis.
KORREKTUR, 18.2.2021, 11:30h: Der hiesge Titel suggeriert, dass die entdeckten Lebensformen bislang gänzlich „unbekannt“ sind. Das ist in dieser Form nicht ganz korrekt, erläutern die Entdecker (wie auch im Folgetext der GreWi-meldung erläutert) doch, dass die Frage, um welche Arten es sich genau handelt, noch geklärt werden müsse und stellen selbst Bezüge zu bekannten Arten in anderen Lebensräume her. Die korrektere Formulierung wäre aber dennoch „unerwartete Lebensformen“.
Wie das Team um den Biogeografen Dr. Huw Griffiths von der British Antarctic Survey aktuell im Fachjournal „Frontiers in Marine Science“ (DOI: 10.3389/fmars.2021.642040) berichtet, bohrten sie während einer Sondierungsuntersuchung 900 Meter ins Filchner-Ronne-Schelfeis im südöstlichen Weddellmeer: „In einer Entfernung von 260 Kilometern vom offenen Ozean, bei völliger Dunkelheit und Temperaturen von minus 2,2 Grad Celsius, wurden unter vergleichbaren Bedingungen bislang erst sehr wenige Tiere beobachtet.“
In ihrem Fachartikel beschreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun aber erstmals die Entdeckung gleich mehrerer schwammartiger stationärer Organismen auf dem Fels des Meeresbodens: „Diese Entdeckung ist einer dieser glücklichen Zufälle, die Ideen in eine andere Richtung treiben und uns zeigen, dass das Meeresleben in der Antarktis unglaublich speziell und erstaunlich an eine gefrorene Welt angepasst ist, so Griffith und führt dazu weiter aus: „Unsere Entdeckung wirft allerdings sehr viel mehr Fragen auf, als sie beantwortet.“ So sei bislang beispielsweise rätselhaft, wie die nun beobachteten Lebensformen dorthin gekommen sind; was sie essen; wie lange sind sie schon dort; wie häufig sind diese Grundfelsen mit Leben bedeckt; sind dies die gleichen Arten, die wir auch jenseits des Schelfeises sehen oder sind es neue Arten und was würde mit diesen Gemeinden passieren, wenn das Schelfeis zusammenbricht?
Das schwimmende Schelfeis bildet den größten unerforschte Lebensraum im Südpolarmeer. Es bedeckt mehr als 1,5 Millionen Quadratkilometer des antarktischen Festlandsockels. Anhand früherer Bohrungen wurde bislang allerdings erst eine Fläche von kaum mehr als der eines Tennisplatzes erforscht.
Hintergrund
Gemeinsam mit der Pressemitteilung zur hier beschriebenen Entdeckung hat Frontiersin.org ein weiteres von der British Antarctic Survey veröffentlichtes Foto (siehe Abb. l.) veröffentlicht, zu diesem jedoch in der Bildbeschreibung erläutert, dass es ein marines Lebewesen zeigt, das in keinem direkten Bezug zur Entdeckung der im Fachartikel beschriebenen, schwammartigen Organismen (siehe Abb. o.) hat. Leider ging dieser Hinweis in einigen Presseberichten zur hiesigen Entdeckung jedoch verloren, weshalb die Aufnahmen seither hier und da für Verwirrung gesorgt hat.
Aktuelle Theorien darüber, was Leben unter dem Schelfeis überleben könnte, legen nahe, dass alles Leben weniger reichlich wird, je weiter es von offenem Wasser und Sonnenlicht entfernt ist. In früheren Studien haben Forscher in diesen Lebensräumen einige kleine mobile Aasfresser und Raubtiere wie Fische, Würmer, Quallen oder Krill gefunden. Es wurde jedoch erwartet, dass Filterfütterungsorganismen – die von der Versorgung mit Nährstoffen aus absinkenden größeren Höhen abhängig sind – zu den ersten gehören, die mit zunehmender Tiefer unter dem Eis verschwinden.
Vor diesem Hintergrund war die aktuell beschriebene Entdeckung für die Wissenschaftler also eine Überraschung, als sie bei ihrer Bohrung, bei der Sedimente beprobt werden sollten, auf einen Felsen statt auf Schlamm am Grund des Ozeans trafen. Umso größer wurde die Überraschung, als sie auf den Videoaufnahmen aus der Tiefe auf diesem Felsen unerwartete Organismen zeigten.
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Wie die Forschenden berichten, handelt es sich „um die erste Aufzeichnung einer Gemeinschaft auf hartem Substrat (d. h. einem Felsbrocken) tief unter einem Schelfeis, und sie scheint allen früheren Theorien zu widersprechen, welche Arten von Leben hier überleben könnten.“
Angesichts der Wasserströmungen in der Region vermuten die Forschenden, dass diese Lebensgemeinschaft bis zu 1.500 Kilometer stromaufwärts von der nächstgelegenen Photosynthesequelle liegt. Es ist aber auch bekannt, dass andere Organismen Nährstoffe aus Gletscherschmelzen oder Chemikalien aus Methanquellen sammeln.
Um mehr über die unbekannten Organismen zu erfahren, müssten direkte Proben der Lebewesen entnommen und diese untersucht werden. „Um unsere Fragen zu beantworten, müssen wir einen Weg finden, diesen Tieren und ihrer Umgebung in 900 Metern Tiefe näher zu kommen“, so Griffiths abschließend. „Dies bedeutet, dass wir als Polarwissenschaftler neue und innovative Wege finden müssen, um sie zu untersuchen und alle neuen Fragen zu beantworten, die wir haben.“ Griffiths und sein Team stellen außerdem fest, dass angesichts der Klimakrise und des Zusammenbruchs des Schelfeises die Zeit knapp wird, diese Ökosysteme zu untersuchen und zu schützen.
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Quelle: Frontiers
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